Ivan Shapovalov brachte uns im letzten Jahr t.A.T.u., zwei küssende Mädchen in Schuluniformen, sein neuer Streich heißt n.A.T.o. – und benutzt als Tabuthema nicht Pädophilie, sondern islamistischen Terrorismus.
Das Video zu ›Chor Javon‹, der ersten Single von n.A.T.o., kursiert bereits im Internet und wurde an Majorlabels in aller Welt geschickt. Es zeigt ein verschleiertes Mädchen, das statt Schuluniform eine schwarze Burkha trägt, die sie aussehen lässt wie eine »schwarze Witwe« – die Selbstmordattentäterinnen, die Russland derzeit in Atem halten. Ihr Gesicht wird in verschiedene Nachrichtensendungen hineingeschnitten, Worte wie »Al-Qaida«, »Oil« und »Terrorism« werden eingeblendet. In einer Szene sieht es tatsächlich so aus, als würde sich die Sängerin in die Luft sprengen. Die Musik dazu: wehmütiger arabischer Gesang über dicke, krachende Beats, wie man sie von t.A.T.u.-Songs wie ›They’re Not Gonna Get Us‹ oder ›All The Things She Said‹ kennt – Hitpotenzial für die Dancefloors von Wladiwostok bis Frankfurt also durchaus vorhanden. Ein Anruf bei Ivan Shapovalov, dem brillanten Pop-Impresario – er klingt Valium-satt, spricht in kurzen, abgehackten Sätzen, rollt das R, wie es sich für Männer des Ostens gehört.
Sie werden manchmal mit Malcolm McLaren, dem Erfinder der Sex Pistols, verglichen. Für ein englisches Magazin haben Sie einmal ein Gespräch mit ihm geführt. Konnten Sie dabei gewisse Ähnlichkeiten feststellen?
Wir haben uns gut verstanden, aber ich vergleiche nicht – weder mich noch andere. Solche Vergleiche sagen meist mehr über die Leute aus, die sie anstellen, als über die, die verglichen werden. Fragen Sie besser die Leute, die sich solche Vergleiche ausdenken.
Wann haben Sie aufgehört, mit t.A.T.u. zusammenzuarbeiten?
Ich weiß nicht mehr genau, wann das war. Aber für mich war es auch nie Arbeit. So etwas ist nie Arbeit.
Was ist es dann?
Es ist mein Leben.
Also gut – wann haben Sie aufgehört, mit t.A.T.u. zu leben?
Ich habe nicht aufgehört. Die Mädchen haben aufgehört.
Haben Sie noch Kontakt zu ihnen?
Ich höre von ihnen aus den Medien, aber wir haben keinen persönlichen Kontakt mehr.
Was haben Sie gedacht, als die beiden öffentlich gemacht haben, dass sie gar nicht lesbisch sind und eine von ihnen sogar schwanger wurde?
Ich habe nie behauptet, dass die beiden lesbisch sind – das war bloß das Medienimage. Für mich war es immer ein Phänomen, das man oft zwischen Mädchen beobachten kann: eine sehr enge Freundschaft, die irgendwann zu Liebe wird.
Haben Sie eigentlich jemals Geld von Madonna oder Britney Spears bekommen, die die Bühnenküsse von t.A.T.u. bei den Video Music Awards kopiert haben, um ihre abflauenden Karrieren wieder anzukurbeln?
[lacht] Nein. [lacht immer weiter – aber nicht über die Frage, sondern über irgendetwas, das ein Mädchen mit ihm macht, dessen Kichern ebenfalls durch die Telefonleitung zu hören ist]
Was machen Sie gerade? Wie ist Ihr Leben im Moment?
Was ich gerade mache? Ich rede mit Ihnen … Mein Leben ist gut. Ich lebe immer noch in Moskau.
Sie haben jetzt ein neues Projekt namens n.A.T.o. – wofür steht dieser Name?
Es ist der Name des Mädchens, das die Lieder singt. Ich habe sie über das Internet kennen gelernt, wo ich ihre Musik gehört habe.
Wer ist dieses Mädchen?
Sie ist 16 und kommt aus Tadschikistan.
Sie wollten n.A.T.o. am 11. September in Moskau der Öffentlichkeit vorstellen. Die Eintrittskarten für das Konzert sahen wie Flugtickets aus. Waren Sie überrascht, als die Behörden – immer noch geschockt von der Geiselnahme in Beslan – das Konzert verboten und absagten?
Hhhmm … [denkt nach] Ich kann jede Situation erwarten … Auch die Absage in Moskau hat mich nicht überrascht. Es ist eine ganz einfache Reaktion. Die aus menschlicher Angst entsteht.
Können Sie die Familien der Opfer von Beslan verstehen, die sich nicht wohl dabei fühlen, dass eine Frau, die wie eine Selbstmordattentäterin gekleidet ist, bei einem »Terrorkonzert« auftreten soll, wie Sie es nannten?
Ich kann die Gefühle der Angehörigen nicht verstehen. Niemand kann das. Aber wenn unsere Gesellschaft Angst vor einer verschleierten Frau in einer Burkha hat, hat unsere Gesellschaft ein Problem. Das ist nicht meine Schuld.
Sie haben einmal gesagt, die Ursache für Kriege sei nicht Geld oder Öl, sondern immer nur Angst. Glauben Sie, dass Popmusik diese Angst lindern kann?
Die Musik von n.A.T.o. wird den Menschen helfen, ihre Angst zu verlieren. Musik spricht das Gefühl an. Angst hingegen entspringt dem Verstand. Wer Musik hört, der spürt Liebe – und Liebe ist das genaue Gegenteil von Angst.
Wie wird es mit n.A.T.o. weitergehen?
In Osteuropa wird ihr Album um Weihnachten herum erscheinen. Auch in England haben einige Labels schon Interesse angemeldet.
Wird es auch Konzerte in Westeuropa geben?
Ja … bald …
Worum geht es in den Liedern von n.A.T.o.?
Machen Sie sich darüber keine Gedanken, hören Sie sich einfach die Musik an.
Was für eine Sprache ist das, in der n.A.T.o. singt?
[lacht] Machen Sie sich auch über die Sprache keine Gedanken. Sie singt in verschiedenen Sprachen: Arabisch, Tadschikisch und Georgisch.
Ist es wahr, dass Sie früher in der Werbung gearbeitet haben – oder ist das nur ein Gerücht?
Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass es ein Gerücht ist. [lacht] Oder ob es ein Gerücht ist, das stimmt.
Aber vorher haben Sie Kinderpsychologie studiert – richtig?
Hhhmmm … Ich habe einen Abschluss darin, ja. Davor bin ich zur Schule gegangen. Und davor wiederum habe ich meinen Eltern zugehört. Aber ich habe immer einen Weg gefunden, Widerstand zu leisten gegen das, was mir beigebracht wurde.
Sind so provokante Projekte wie t.A.T.u. oder n.A.T.o. eine logische Konsequenz aus diesem Werdegang?
Inwiefern t.A.T.u. oder n.A.T.o. provokant sind, hängt ja ganz von Ihrer Betrachtungsweise ab. Ich finde es nicht provokant, wenn sich zwei junge Mädchen auf der Bühne küssen. Oder wenn eine Frau ihr Gesicht verschleiert. Ich tue einfach, was ich tue. Mit Provokation hat das nichts zu tun.
Welchen Erfolg soll n.A.T.o. haben, was wollen Sie mit dem Projekt erreichen?
Mir reicht es schon, wenn die Leute die Musik hören. Wenn sie auf die Konzerte kommen – wenn sie ihre Angst verlieren.
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t.A.T.u.
Während t.A.T.u. in Russland mit 1,5 Millionen verkauften Alben bereits Superstars waren, gelang der Durchbruch in England genau in einem Moment, in dem sich das Land in einer von der Boulevardpresse angeheizten Massenhysterie in Sachen Kinderpornografie befand. Es waren jedoch keineswegs frustrierte, gealterte Lustmolche, die die CDs des erfolgreichsten russischen Musikexports aller Zeiten kauften. Sondern ganz normale Teenager, die eine von Produzentenlegende Trevor Horn perfekt klangveredelte Pop-Platte hören wollten.
Malcolm McLaren
Manager der New York Dolls (die er mit Hammer-und-Sichel-Ästhetik vermarktete) und später Geschäftsführer der Londoner Boutique SEX von Designerin Vivienne Westwood. Er erfand 1976 die Sex Pistols, steckte Adam & The Ants in Piratenkostüme und wird oft als Entdecker von Boy George bezeichnet. In den Achtzigern gründete er mit der 14-jährigen Sängerin Annabella Lwin die Band Bow Wow Wow und veröffentlichte mit ›Buffalo Gals‹, ›Soweto‹ und ›Double Dutch‹ eigene Platten, die in den USA und England charteten.
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Text & Interview. Christoph Koch
Erschienen in: Intro
Fotos. Screenshots des n.A.T.o.-Videos „Chor Javon“