Sie kamen aus dem Nichts und waren das große deutsche Pop-Phänomen der letzten beiden Jahre: über 500.000 verkaufte Exemplare des Debütalbums „Die Reklamation“, drei Echos, komplett ausverkaufte Tourneen, mehrere Harald-Schmidt-Auftritte. Jetzt geht es in die zweite Runde, und plötzlich sind sie alle da: die Erwartungen. Der Druck. Die Über-Indies, die ein Straucheln sehen wollen. Die Klatschpresse und die großen Nachrichtenmagazine. Die Fußballstadien voller gespannter Fans. Ein Studiobesuch bei Wir Sind Helden.
Ein Abend Ende Januar im kalten, grauen Berlin. In einem Kreuzberger Keller nimmt Bassist Mark gerade noch eine Akustikgitarren-Spur auf: einen der letzten Parts für das neue Album. Seit vier Monaten sind Wir Sind Helden inzwischen im Studio, fünf bis sechs Tage die Woche. Vier Monate unter Tage, umgeben von einer stimmungsaufhellenden Tageslichtlampe und einem Tischkicker. Eine gute Gelegenheit, um Panik zu kriegen ob des Erfolgsdrucks, der draußen wartet. „Der Druck war eigentlich am stärksten, als ‚Die Reklamation‘ gerade raus war und wir noch keinen einzigen neuen Song hatten“, erzählt Schlagzeuger Pola Roy und streicht über seinen Bart. „Danach wurde es eigentlich immer besser. Natürlich knuffen einen Leute in die Seite: ‚Hey, die zweite Platte ist die schwerste, da könnt ihr doch nur noch verlieren.‘ Aber ein bisschen Druck braucht man ja auch.“
Von Knien, Flüssen und Elefanten
Nachdem die Aufnahme beendet ist, klickt der kleine, wasserstoffblonde Produzent Patti riesige Computerdateien an. Zwölf der 13 Lieder des Albums gibt es bereits in einem Rohmix zu hören, und der erste – stets schwierige – Eindruck der Abhörsitzung unter den Augen der Band ist: Teufel, die wissen genau, was sie tun. Da gibt es Konzerthallentauchsieder, Nachdenkfeuersteine, Liebesbeschwörer und Kicherschleifenbinder. Vielleicht rocken die Gitarren unterm Strich eine Spur mehr als beim Vorgänger, aber erneut ist das Album ein Gemischtwarenladen der Genres und Stimmungen. Als der letzte Akkord verklungen und das Bier geöffnet ist, natürlich der reflexartige Versuch, sofort Bilanz zu ziehen, zu subsumieren, Themen zu erkennen. Ein Bild, das in erstaunlich vielen Stücken auftaucht, ist das des Tragens: Aufsteigen. Beine, die tragen. Jemand, der über einen Fluss getragen wird. Man geht in die Knie. Ein Wagen trägt nicht mehr. Selbst der Elefant, Lasttier schlechthin, wird als Ideal beschworen. Dazu singt Judith immer wieder davon, etwas zu halten, jemandem etwas abzunehmen.
Ist „Von Hier An Blind“ eine Platte über das Helfen, das Tragen, das Zur-Seite-Stehen?
Judith: Im letzten Jahr haben mich viele solcher Dinge bewegt. Wir haben ja E-Mails bekommen wie „Meine Frau wurde in eurem T-Shirt beerdigt, und meine Kinder singen immer eure Lieder.“ So was berührt mich sehr, weil man den Menschen unter Umständen in dem Moment wirklich hilft. Aber in der Platte ist sicher auch sehr stark das Gefühl von Dankbarkeit enthalten. Das hatte eine Menge mit diesen großen Glücksmomenten zu tun, bei denen ich gesagt habe: „Mach jetzt die Augen auf und schau dir das an. Geh da nicht durch, ohne das mitzukriegen.“ Und wenn man das macht, berührt einen das natürlich sehr tief.
Und ist es Zufall, dass es auf dem Album auch häufig um den Tod geht?
Pola: Zwischendurch hatte ich die Befürchtung, dass es zu morbide werden könnte, weil es sich so oft um Tod und Vergänglichkeit dreht. Nach meinem Gefühl aber immer auf eine positive, kraftvolle Art und Weise. Entsprang das Thema aus persönlichen Erfahrungen, die jemand aus der Band machen musste?
Mark: Nein, wir sind eigentlich in einer Situation, in der wir alle sehr glücklich sind. Wir verstehen uns zu viert sehr gut, und auch privat ist zum Glück bei niemandem von uns etwas Schlimmes passiert.
Ju: Ich konnte auch gerade deshalb, weil wir so ein glückliches Jahr hinter uns haben, von einem unglaublich festen Standpunkt aus auf Sachen und Themen zugehen, die schwierig – aber auch genau deswegen hilfreich – sind. Die Sachen, vor denen man die größte Angst hat, sind der größte Hebel, den man hat, um wirklich glücklich zu werden. Wenn man sich den größten Ängsten stellt, hat man danach nicht mehr viel zu befürchten.
Oper und Operette
Doch bevor der Eindruck entsteht, Wir Sind Helden wären eine deutsche Reinkarnation von Joy Division geworden, muss man die Schreibtischlampe vielleicht auch mal rüber zu den aufgekratzteren Stücken drehen. Denn neben der großen, getragenen Opernhaftigkeit von Liedern wie „Ich Kann Es Halten“, „Mein Leben Lang Üben“ und „Darf Ich Das Behalten“ haben die Helden leider auch ein wenig Operette im Gepäck. Deutlich weniger codiert handeln Lieder wie „Zuhälter“ oder „Zieh Dir Was An“ von der Welt da draußen: von den Fiesen, den Schmierigen, den Doofen, den Musikbossen und Großstadtflittchen, der Werbewelt und den Einschaltquoten. Nicht nur, dass die Musik bei diesen Stücken ein wenig abfällt, auch die Texte, die sonst das ganze Album über auf sehr hohem Niveau strahlen, werden hier für kurze Zeit sozialpädagogisch bieder. Denn dass mit Sex gerne mal Sachen verkauft werden sollen und dass im Musikbusiness Nächstenliebe nicht die gängige Währung ist, kann so eine neue Erkenntnis nun wieder nicht sein. Wieder besser und am deutlichsten auf die derzeitige Situation der Band gemünzt ist „Gekommen, Um Zu Bleiben“, die erste Single, mit der den Missgünstigen sofort Konter gegeben werden soll.
Habt ihr Angst vor einem Backlash? Dass nach eurem großen Erfolg jetzt alle die Messer wetzen?
Jean: Es ist uns schon bewusst, dass es viele Leute gibt, die uns lieber gestern als heute von der musikalischen Landkarte wegradieren würden. Da muss man sich halt warm anziehen. P: Das klingt aber jetzt hart …
Ju: Na ja, bei dem, was uns im letzten Jahr an Positivem widerfahren ist, ist es klar, dass uns einige jetzt aus Prinzip nicht gut finden. Hätte ich vielleicht mit 16 auch gemacht. Ich habe immer gerne Bands entdeckt, und wenn sie dann zu groß wurden, habe ich sie nicht mehr gemocht.
Ein Fehler, die erste Single „Gekommen, Um Zu Bleiben“ als Kampfansage zu deuten?
M: Wenn man wie wir ein halbes Jahr lang völlig von der Bildfläche verschwunden ist, dann wird das erste Lebenszeichen automatisch zu einer Speerspitze. Deshalb war uns der Inhalt hier auch wichtiger als die Radiotauglichkeit.
P: Es ist ja kein Lied, das sagt, wir wären die Geilsten. Sondern es geht darum, dass wir einfach noch ein bisschen weitermachen, noch ein paar Jahre da sind, Musik machen, dazugehören. Je: Dieser Riesenhype war uns selbst im Grunde eher peinlich.
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Holofernes
Figur des Alten Testaments. Dort greift Holofernes die jüdische Stadt Bethulia an, die jedoch von der hübschen Witwe Judit (sic) gerettet wird: Sie wirft sich an ihn heran und enthauptet ihn, als er betrunken ist. Judith Holofernes heißt natürlich nicht wirklich so, völlig ausgedacht ist der Name jedoch auch nicht. Ihr richtiger Nachname klingt so ähnlich.
Operette
Aus dem Singspiel (nicht der Oper) entstandenes musikalisches Bühnenwerk, das sich fröhlicherer Rhythmen und Inhalte bediente als die Oper. Johann Strauß („Die Fledermaus“, „Der Zigeunerbaron“) und Paul Lincke („Venus Auf Erden“, „Casanova“) verfassten erfolgreiche Werke, nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Operette durch Revuen und später Musicals ersetzt.
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Text & Interview. Christoph Koch
Erschienen in: Intro
Fotos: Christoph Koch