Schwarze Witwe statt Schulmädchen: Der neue Pop-Schocker des „t.A.T.u.“-Erfinders
Ivan Shapovalov ist kein Mann vieler Worte. Der russische Musikproduzent, der als Erfinder des Popduos t.A.T.u. weltberühmt wurde, antwortet auf die Interviewanfrage per E-Mail nur mit einer Telefonnummer und dem Satz: „It is possible.“ Auf die Rückfrage, wann man ihn am besten erreichen könne, kommt wieder nur eine Zeile: „Any time.“ Als er dann endlich abnimmt, bittet er, eine Stunde später noch mal anzurufen. Nach 55 Minuten eine neue Mail: „Call now :)“. Da ist tatsächlich ein Smiley.
Ivan Shapovalov, das ist – der neue Malcolm McLaren. Der hatte Ende der siebziger Jahre die Welt in Rage versetzt, weil er eine Band namens Sex Pistols in Hakenkreuz-Shirts über die Queen, Bergen-Belsen und Anarchie singen ließ. Das würde heute nur noch begrenzt schocken, weil es als Pop-Strategie erkennbar wäre. Shapovalov hat trotzdem etwas ähnliches wie einst McLaren geschafft. Mit zwei jungen Mädchen in Schuluniformen – die sich innig küssten.
Die Welt drehte durch. Kinderpornografie schrien die einen, die Rettung des Pop jubelten die anderen. Shapovalov freute sich, streute jede Woche neue Gerüchte über t.A.T.u. und stapelte ansonsten bald Geldbündel. Die Vergangenheit des Mannes – ein einziger Mythos: Mit der Musikbranche hatte er zuvor nie etwas zu tun, angeblich arbeitete er als Werber. Oder ist das auch nur ein Gerücht? „Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass es ein Gerücht ist“, sagt der 38-Jährige. „Oder ob es ein Gerücht ist, das stimmt.“ Als gesichert gilt sein Abschluss in Psychologie: „Kinderpsychologie stimmt. Aber ich habe schon immer einen Weg gefunden, Widerstand zu leisten gegen das, was mir beigebracht wurde.“
Das ist ihm umgekehrt zuletzt selbst widerfahren: t.A.T.u. haben sich Anfang des Jahres von ihrem Schöpfer getrennt. Es soll nach einem geplatzten Fernsehauftritt in Japan gewesen sein, als noch alle Welt Elena und Yulia zu Füßen lag. Shapovalov – der stets kontrollierte, was sie sagten, und ihnen vertraglich verbot, sich mit Jungs zu zeigen – hatte die renitenten Mädchen in ihre Garderobe gesperrt. Kurz darauf bekannten die sich öffentlich dazu, Jungs beziehungsweise Heroin zu lieben. Und nicht einander. „Ich habe nie behauptet, dass die beiden wirklich lesbisch sind“, sagt Shapovalov heute, „das war bloß ihr Medienimage.“
Doch Ivan Shapovalov plant bereits einen neuen musikalischen Anschlag auf die Welt: n.A.T.o., ein 16-jähriges Mädchen, das statt in Schuluniform völlig verhüllt auftritt. Sie soll nach „Schwarzer Witwe“ aussehen, wie eine der tschetschenischen Selbstmordattentäterinnen also, die Russland zuletzt in Atem hielten. Das Video zu „Chor Javon“, der ersten Single von n.A.T.o., kursiert bereits im Internet. Es zeigt das verschleierte Mädchen, wie es in News-Sendungen hineingeschnitten wird, arabische Schriftzeichen laufen durchs Bild, und in einer Szene sieht es wirklich so aus, als würde sich die Sängerin in die Luft sprengen. Die Musik dazu: arabischer Gesang über krachenden Beats, wie man sie von t.A.T.u. kennt.
Das Stück hat Hitpotenzial. Vor allem aber sind da diese wunderschönen Augen – die Augen von Nato, so heißt laut Shapovalov das Mädchen tatsächlich. Es soll angeblich aus Tadschikistan stammen. Das zentralasiatische, an Afghanistan grenzende Land ist zwar zweitausend Kilometer von Grosny entfernt, hat aber zumindest auch ein Islamisten-Problem – das reicht Shapovalov als Authentifizierung. Hauptsache irgendwas mit Islam und Terror.
In Moskau sahen diese Augen schon tausendfach von Plakaten herunter, mit denen Shapovalov den ersten Auftritt von n.A.T.o. ankündigte. Ein „Terrorkonzert“ versprach der Impresario, die Eintrittskarten waren wie Flugtickets gestaltet. Der Termin: 11. September. Was sonst vielleicht als besonders geschmackloser Scherz durchgegangen wäre, sorgte in Russland, das Tage zuvor vom Geiseldrama in Beslan erschüttert worden war, für einen Aufschrei. Die Behörden verboten das Konzert, in Zeitungen forderten wütende Leserbriefe, Shapovalov ins Gefängnis zu werfen.
„Ich kann mich in die Gefühle der Angehörigen der Terroropfer nicht hineinversetzen“, sagt er. „Niemand kann das. Aber wenn unsere Gesellschaft Angst vor einer verschleierten Frau hat, hat sie ein Problem – und das ist nicht meine Schuld.“ Seinen Plan, n.A.T.o. ebenso zu vermarkten, wie er es mit t.A.T.u. getan hat, will er nicht aufgeben: „Natos Musik wird den Menschen helfen, ihre Angst zu verlieren. Musik spricht das Gefühl an. Angst hingegen entspringt dem Verstand. Wer Musik hört, der spürt Liebe – und Liebe ist das Gegenteil von Angst“.
Geld von Madonna? Nein :)
So simpel klingt die Philosophie des Ivan Shapovalov – und das Merkwürdige daran ist: Er glaubt offenbar fest an sie. In Russland soll die n.A.T.o.-CD um Weihnachten herum erscheinen, in Westeuropa haben schon einige Labels Interesse angemeldet. Auch Konzerte soll es geben – wenn sie nicht wieder verboten werden. „Inwiefern etwas provokant ist, hängt ganz von der Betrachtungsweise ab“, wehrt sich Shapovalov gegen den Vorwurf, nur schocken zu wollen. „Ich finde es nicht provokant, wenn sich zwei junge Mädchen auf der Bühne küssen. Oder wenn eine Frau ihr Gesicht verschleiert. Ich tue einfach, was ich tue. Mit Provokation hat das nichts zu tun.“ Shapovalov meint das ernst. Und vielleicht ist er ja wirklich ein Genie. Ein Mann, der mit niedrigen Instinkten wie mit kulturellen Reflexen ebenso kunstvoll zu spielen weiß wie mit den empörten Reaktionen auf dieses Spiel.
Welchen Einfluss seine Ideen längst haben, zeigte sich daran, dass Madonna, Britney Spears und Christina Aguilera es nötig hatten, ihn zu kopieren: Bei den MTV-Awards im letzten Jahr machten sie nach, wofür t.A.T.u. berühmt geworden waren – sie küssten sich auf offener Bühne. Hat er von den dreien dafür eigentlich Geld gesehen? Da lacht Ivan Shapovalov nur: „Nein.“ Und während er immer weiter lacht, dringt durch die Leitung bald auch das helle Kichern eines Mädchens, das so nah klingt, als läge sie in Shapovalovs Armen. Die Frage, ob das im Hintergrund Nato ist, überhört er. Er ist halt ein Profi.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: Süddeutsche Zeitung
Fotos: Screenshots aus dem n.A.T.o.-Video „Chorjavon“