Warum viele Menschen auf ein kleines Gerät namens Blackberry nicht mehr verzichten können
Nicht auszudenken, wenn der Strom von E-Mails, der ständig in Blackberrys hinein- und wieder hinausfließt, plötzlich versiegte. Wenn die Standleitung in die weite Welt der Kommunikation urplötzlich gekappt würde. Genau diese Gefahr drohte amerikanischen Benutzern des zigarettenschachtelgroßen Geräts zum mobilen Versenden von E-Mails bis Ende voriger Woche: Ein vor Gericht ausgetragener Patentstreit zwischen der Blackberry-Firma Research In Motion (RIM) und einem Erfinder hätte beinahe eine Abschaltung des Netzes in den USA und ein Verkaufsverbot zur Folge gehabt. Kaum hatten sich die Parteien außergerichtlich geeinigt, stiegen die RIM-Aktien um 19 Prozent.
Selbst das Justizministerium hatte sich in den erbitterten Streit eingeschaltet: Wichtige Regierungsorganisationen könnten ohne Blackberry nicht mehr arbeiten, hieß es. Rund 400 Mitarbeiter des Weißen Hauses empfangen ihre Mails mobil, viele tausend Regierungsangestellte benutzen Blackberrys. Das US-Bildungsministerium will festgestellt haben, dass seine Mitarbeiter mit dem kleinen Ding produktiver sind. Das macht das Gerät ebenso interessant wie die Tatsache, dass nach den Anschlägen vom 11. September 2001 fast alle Kommunikationssysteme zusammenbrachen, die Blackberrys aber unbeeindruckt ihren Dienst taten.
Und so umklammert die Kommunikationselite nach der vorübergehenden Entwarnung ihr Lieblingsspielzeug noch fester. Gefreut hätten sich vermutlich einzig die Psychotherapeuten über eine Abschaltung des Blackberry-Netzes – wären ihre Wartezimmer doch voller auf Entzug gesetzter Blackberry-Junkies. Wer einmal das berauschende Gefühl genossen hat, überall und zu jeder Zeit Mails um die Welt jagen zu können, ohne erst ein Notebook aufklappen und eine Internet-Verbindung herstellen zu müssen, kann kaum noch darauf verzichten. Besonnene Sicherheitsfanatiker geben plötzlich zu, bisweilen während des Autofahrens auf das Display des handheld- Gerätes zu schauen. Nur um zu sehen, ob da gerade eine wichtige Nachricht reingekommen ist – oder wieder nur ein Angebot, kostengünstiges Valium übers Internet zu bestellen. Die größten Romantiker verlassen den Kerzenschein des Restauranttischs, um an der Garderobe kurz nachzusehen, ob sie schon Antwort auf ihre Frage bezüglich des Ski-Wochenendes bekommen haben – und gegebenenfalls sofort wieder zurückschreiben zu können, wann sie wen wo auf dem Weg in die Berge abholen.
Reines Mitleid empfindet man für den Stadionbesucher, der auf der Großbildleinwand eingefangen und gezeigt wird, wie er verbissen auf sein Gerät drückt – und dabei das Siegtor seiner Mannschaft verpasst. Und welcher Pendler, der auf dem Heimweg seinen Blackberry benutzt, war nicht schon mal so in das Gerät versunken, dass er versäumte, auszusteigen? Nicht schlimm, dass zu Hause jemand wartet – der Blackberry vertreibt hervorragend die Wartezeit auf der Rückfahrt.
Im Gegensatz zu schweren Betäubungsmitteln lässt sich die Blackberry-Sucht diskret befriedigen: Schnell ist das Gerät unterhalb der Tischkante hervorgeholt. So schnell, dass inzwischen einige Unternehmen Berry-Verbote in Konferenzen verhängt haben. Beschämend deutlich wird die eigene Sucht beim reflexhaften Griff zum Blackberry, während man vor seinem Büro-Computer sitzt – also bereits vollen Zugriff auf E-Mails hat. Es gibt eigentlich keinen Grund, das mobile Gerät am Schreibtisch zu benutzen – und dennoch wirken die Mails auf dem kleinen screen des Blackberry frischer, aufregender, irgendwie besser.
Ähnlich wie der iPod den im Grunde banalen Akt des Musikhörens mit einer neuen Coolness aufgeladen hat, macht das längst alltäglich gewordene Verschicken von E-Mails mit dem Blackberry plötzlich wieder Freude. Davon profitiert auch der Monopolist RIM: Die Zahl der Blackberry-Benutzer verdoppelt sich jedes Jahr, inzwischen sind es über 4,3 Millionen. Analysten rechnen bis Jahresende mit neun Millionen Nutzern. Rund drei Viertel des Geschäfts macht RIM in den USA, Deutschland ist nach Großbritannien der zweitgrößte Markt für Blackberrys in Europa – inzwischen statten 29 von 30 Dax-Unternehmen einen Teil ihrer Mitarbeiter mit Blackberrys aus.
Doch die Berry-Begeisterung hat sich noch nicht überall durchgesetzt. »Mal ehrlich, brauchst du das wirklich?« – keine Frage hören Blackberry-Einsteiger häufiger. Sie müssen nicht einmal mit dem Ding gesehen werden. Schon die automatisch unter jede E-Mail kopierte Zeile »Gesendet mit Blackberry« sorgt am anderen Ende für Ressentiments: »Du Blackberry-Poser« kommt es bisweilen barsch zurück. Die Unterstellung, man wolle sich durch ein technisches Gerät interessant machen, erinnert an die frühen neunziger Jahre, als Handybesitzer noch als Wichtigtuer verspottet wurden. Auch als in den achtziger Jahren »Heimcomputer« modern wurden, wägte man zaghaft ab: Brauchte man wirklich einen »PC«? Vielleicht der Papa für die Arbeit. Oder die Kinder für ein Mathe-Lernprogramm. Niemand würde solche Kriterien heute noch für den Kauf eines Computers anlegen – und auch für den Besitz eines Handys muss niemand mehr Manager sein. Aber wird das E-Mailen via Blackberry eines Tages so selbstverständlich sein wie Handytelefonate es heute sind? Es sieht ganz danach aus.
Egal, welche Studie man zu Rate zieht: Auf die Frage, was sie im Internet so treiben, geben fast alle Befragten an, dort Mails zu schreiben. Naheliegend also, die mit Abstand beliebteste Anwendungsmöglichkeit des Internet mobil verfügbar zu machen. Das war und ist auch jenseits des Blackberry möglich, meist jedoch ziemlich umständlich. Um zum Beispiel sein Handy entsprechend zu konfigurieren, braucht man beinahe ein IT-Studium, und um die Mails abzurufen, muss man sich jedes Mal erneut umständlich ins Internet einwählen. Der Blackberry ist dagegen immer online. Sobald E-Post auf einem der bis zu acht überwachten Mail-Konten eingeht, wird sie durch die Push-Technologie des Gerätes direkt auf den visitenkartengroßen Bildschirm geschickt.
Natürlich hat der Fortschritt seinen Preis. »Blackberry-Daumen« (wegen Sehnenscheidenentzündung) und »CrackBerry« (wegen des Suchtfaktors) gehören inzwischen zum Small-Talk-Standardrepertoire auf allen Partys. Schlimmer: Wer ständig auf die Minitasten drückt, wirkt wie ein kleiner Junge, der Autorennen auf dem Gameboy fährt. Wirklich lässig sieht niemand aus, wenn er mit dem Blackberry hantiert. Und schließlich ist da noch die Datensicherheit: Weil alle europäischen Blackberry-Mails über einen einzigen Server in England laufen, fürchtet das deutsche Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, der Blackberry sei »für den Einsatz in sicherheitsempfindlichen Bereichen der öffentlichen Verwaltung und spionagegefährdeten Unternehmen nicht geeignet«.
Durch die ständige Erreichbarkeit via Blackberry verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeitswelt und Freizeit noch weiter. Während eine Mail vom Freitagnachmittag bislang gerne mal bis Montagmittag liegen blieb, kann der Chef von seinem Blackberry-führenden Untergebenen nun stets eine schnelle Antwort erwarten. Wenn die Technik gut funktioniert, ist die Anfrage »Können Sie mir bitte noch schnell die folgenden Unterlagen schicken…« allenfalls lästig. Wenn plötzlich jedoch der Akku leer ist oder – Schwachstelle vor allem älterer Blackberrys – Dateianhänge nicht geöffnet werden können, sehnen sich Blackberry-Besitzer nach der Zeit zurück, in der das Fax die modernste Möglichkeit war, Texte zu übermitteln.
Kabinette, Chefetagen und Premierenpartys hat der Blackberry längst erobert. Was macht das Gerät auch jenseits der Kommunikationselite interessant? Neben den sinkenden Preisen für Anschaffung (zwischen rund 400 bis 600 Euro) und Betrieb (derzeit rund 15 Euro pro Monat) ist es die einfache Bedienung. Das Garantiehandbuch ist dicker als die Bedienungsanleitung – und die braucht man im Grunde nicht. Im Gegensatz zu den meisten Mobiltelefonen bekam das Blackberry nicht noch diverse Zusatzfunktionen aufgebrummt.
Da gibt es keine Digitalkamera, die unscharfe Bilder macht, keinen MP3-Player und kein eingebautes Radio. Noch nicht – denn RIM kündigte leider bereits an, solche Zusatzfunktionen bei kommenden Modellen einbauen zu wollen. Bislang ist nur das an Bord, was der Arbeiter der Neuzeit braucht: Mail-Programm, Terminkalender, Adressbuch, Telefon, Notizblock und Taschenrechner.
Eine weitere Funktion hat das Model Naomi Campbell eingeführt, das dafür bekannt ist, bei Wutanfällen auf ihre Assistentinnen einzuprügeln. Benutzte sie zur Züchtigung bislang nur Handy oder flache Hand, greift sie inzwischen gerne auch zum Blackberry.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: Die Zeit
Foto: RIM