Eindrücke vom Morrissey-Auftritt in London
Der Alexandra Palace liegt in den Hügeln über London und zur Vorfreude auf den Morrissey-Auftritt gesellt sich bei der menschlichen Ameisenstraße, die sich langsam bergauf schiebt, die Begeisterung über den Ausblick. „Ali Pali“ nennen die stiernackigen Bouncer die geräumige und mit schnörkeligen Bögen verzierte Halle, die sich bewachen. Drinnen Bierstände, mehrere Merchandisingbuden und vereinzelte „Morrissey-Morrissey-Morrissey“-Sprechchöre.
Das Licht geht aus, der Jubel los. Die ersten drei Lieder sind die Bombe. Zuerst „First Of The Gang To Die“, der Smash-Hit vom letzten Album, der ihn sieben Jahren der Stille wieder zurück auf die Tanzflächen brachte. Dann „You Have Killed Me“, das Stück „von der neuen“, das am schnellsten ins Ohr geht und auch jetzt selig mitgeschrien wird – „And there is no point saying this again, but I forgive you, I forgive you, always I do forgive you“. Ohne große Ruhepause danach sofort „Still Ill“, eines der Trademark-Stücke seiner Exband: The Smiths. Ali Pali tobt. Danach hat Morrissey einen Schweißfleck in der Form eines – kein Witz – Engels auf dem Rücken seines bordeauxroten Maßhemdes.
Schlechtgelaunter Engel
Doch der Engel hat schlechte Laune. „Als dieses Lied damals veröffentlicht wurde“, erklärt er ein paar Songs später nach dem Smiths-Klassiker „Girlfriend In A Coma“, „wollte es Radio One auch nicht spielen. Die Dinge haben sich also nicht wirklich geändert“. Grund für den Unmut: Der BBC-Sender Radio One will Mozzers neue Single „The Youngest Was The Most Loved“ nicht spielen. Doch das ist nicht das einzige, über das der Sänger sich erbost: Beim Tourauftakt in Manchester schimpfte er laut Zeitungsberichten nicht nur über die Radiomacher, die ihn aufgrund seines Alters benachteiligten, sondern machte sich auch über U2 lustig, die ihn in einem Wettbewerb um die beste Songzeile aller Zeiten auf Platz drei verwiesen hatten. „I noticed Bono did better than me. He is really nice, but really?“
Dabei hatte man anfangs noch gehofft, dass Morrissey statt des beleidigten älteren Herren, den teuflischen Zeremonienmeister geben würde. Der mit dem Mikrophonkabel wie mit einer Peitsche um sich schlägt. Und zum blöden Tagesgeschäft zwischen George Bush, Doofmannpresse und Radioairplay schweigt, wie es sich für einen Künstler seiner Größe gehört. Der sich statt des nervenaufreibenden klein-klein lieber den großen Gesten widmet – wie seine neu entdeckten italienischen Helden, denen er das „Ringleader“-Album gewidmet hat.
Wie Visconti, der sich wie Morrissey auch eine Weile Los Angeles ansah – und wie er nicht begeistert war. Wie Anna Magnani, der großen italienischen Schauspielerin, die sich gut auf einem Plattencover der Smiths gemacht hätte. Wie Pasolini, der 1975 von einem Strichjungen ermordet wurde. Manche sagen, er habe seinen Tod genau so selbst inszeniert. Genaues weiß man nicht. Auch Morrissey war immer jemand, bei dem die Gerüchte wucherten. Hetero-, homo- oder asexuell? Geht es in Textzeilen „I entered nothing and nothing entered me“ ums Stöpseln und Gestöpseltwerden? Oder doch eher was Transzendentales? „Herr Morrissey, sind Sie ein Hermaphrodit?“ wollte gar mal ein besonders waghalsiger Interviewer wissen. Nie sah man jemand an des Mozzers Seite, das Umfeld schwieg und als auf dem aktuellen Album „Ringleader of the Tormentors“ das lyrische Ich sich „zwischen den Beinen“ einer anderen Person widderfand, feierten manche Artikel das so ausschweifend, als wäre gerade bekannt geworden, der beste Kumpel habe im Zeltlager seine Unschuld verloren.
Steven Patrick Morrissey sind solche Spekulationen um seine sexuellen Aktivitäten einerlei. Die Lieder sprechen gefälligst für sich, einmal sagen sie zum Beispiel „Pasolini is me“, ein anderes Mal „I am walking through Rome / With my heart on a string / Dear God, please help me“. Morrissey selbst schweigt und schleckt auf Pressefotos in pitorreseken Gassen Eis. Wenn sich der Meister gegenüber der Presse äußert, dann zu Themen wie Tiermord, Präsident Bush und Amerika im Allgemeinen. Dass er diesem Land den Rücken gekehrt hat und in Rom zumindest eine geistig-stilistische Heimat gefunden hat, sieht man auch während des Konzerts in London. Die Tricolore prangt nicht nur auf der Bassdrum, sondern auch auf einer Doppelhalsgitarre des hefeartig aufgehenden Band-Paten Boz Boorer. Auf dem großen Backdrop hinter der Bühne erscheint während mancher Lieder die schwarz-weiß-Fotografie eines Mannes mit Gitarre, die kaum an einem anderen Ort zupfen kann, als in einer italienischen Hafenbar.
Würde der echte Nick Hornby bitte aufstehen?
Als nach der einzigen Zugabe „Irish Blood, English Heart“ unter allgemeinem Murren die Hallenlichter angehen wird klar, dass es sich hier nicht um einen Gottesdienst für Smiths-Jünger handelte, nicht um eine Pilgerfahrt für Freunde gut abgehangenen Indiepops. Morrissey ist zu einem relativ normalen Popsänger für die mittelalte Generation geworden. Im in die laue Londoner Frühlingsmnacht strömenden Publikum finden sich zwar auch noch der ein oder andere Smiths-Ultra mit Quiff und National-Health-Service-Brillengestell. Aber die Mehrheit stellen fröhliche Paare, die sich mal was gönnen und nächsten Monat zu James Blunt oder Coldplay gehen – sowie ein Heer an Nick-Hornby-Lookalikes mit schwarzer Lederjacke, Bierbauch und Halbglatze.
Wie sehr sich Morrissey inzwischen von seiner anfangs erdrückenden Vergangenheit als Sänger der Smiths emanzipiert hat, stellt man fest, wenn man am Ende des Konzerts resümiert, welche Lieder man sich noch gewünscht hätte. Klar sind da auch jede Menge Smiths-Titel dabei. Aber eben auch viele, die Morrissey als Solokünstler ersonnen hat. Suedehead, The More You Ignore Me, Boxers, Dagenham Dave, Sing Your Life, Now My Heart Is Full, Alsatian Cousin, We Hate It When Our Friends Become Successful. Wer so viele Hymnen geschrieben hat, sollte nicht herabsteigen, um gegen Radiosender oder Bono Vox zu stänkern.
Bessere Laune haben und machen da die Wartungsarbeiter an einer Londoner U-Bahn-Station, die nachts noch nach dem Rechten sehen. Auf die Frage, wo es zur – inzwischen schon morgendlichen Stunde – noch einen geöffneten Schnapsladen gibt, antwortet einer nur lachend. „This is Britain, mate. There is a better chance of shagging the Queen“.
Text: Christoph Koch
Erschienen auf: jetzt.de
Fotos: Sanctuary