Ein Gespräch mit dem Zeitforscher Robert Levine
Wer schneller zu Fuß unterwegs ist, lebt ungesünder, ist aber auch wohlhabender und zufriedener – behauptet der amerikanische Psychologieprofessor Robert Levine. Er hat die Schrittgeschwindigkeit der Menschen in verschiedenen Teilen der Welt verglichen.
Professor Levine, Sie haben herausgefunden, dass die Menschen in verschiedenen Ländern unterschiedlich schnell leben. Wie misst man so etwas wie Lebensgeschwindigkeit?
Es ist tatsächlich sehr schwierig, dafür objektive Maßeinheiten zu finden, denn man kann den Menschen ja keine Stoppuhr implantieren. Wir haben die Geschwindigkeit gemessen, mit der die Menschen tagsüber in den Innenstädten zu Fuß gehen. Wir haben gemessen, wie lange es dauert, eine Briefmarke auf einem Postamt zu kaufen, oder wie lange ein Bankbeamter für eine Überweisung
benötigt. Wir haben geprüft, wie genau die öffentlichen Uhren gehen und wie viele Menschen eine Armbanduhr tragen.
Schauen viele Menschen nicht nur noch auf ihr Handy, um die Zeit abzulesen?
Ja, in Zukunft werden wir uns neue Methoden suchen müssen. Auch die Gehgeschwindigkeit wird oft belächelt, aber ich halte sie nach wie vor für signifikant. Wo leben Sie?
In München.
Dann messen Sie einmal an verschiedenen Werktagen die Gehgeschwindigkeit der Menschen in einer Hauptstraße. Sie werden jeden Tag dieselbe Geschwindigkeit feststellen, obwohl den Menschen ja niemand sagt, wie schnell sie gehen sollen. Ein Kollege schlug mir auch einmal im Scherz vor, ich sollte die „Hupsekunde“ messen. Also die Zeit, die vergeht zwischen dem Umschalten der Ampel auf Grün und dem Hupen des Hintermanns.
Was haben Sie herausgefunden? Wo ist das Leben am schnellsten?
In der Schweiz, in Japan und in Deutschland. Das ist wenig überraschend, denn diese Länder sind für ihre Genauigkeit, ihren Fleiß und ihre Arbeitsmoral bekannt. Was dagegen überraschend war: Auch Länder wie Irland oder Italien – eigentlich alle europäischen Länder – waren in der Spitzengruppe.
Dann ist der gemütliche Italiener, der den ganzen Tag in Straßencafés sitzt, also nur ein Klischee?
Ja, aber eines, das in der Realität fußt. Als wir in den Siebzigern zum ersten Mal diese Art Untersuchung machten, da war Italien im Vergleich deutlich langsamer. Sie haben also aufgeholt, was die Lebensgeschwindigkeit betrifft. Aber nur während des Arbeitstages. Am Wochenende und abends ist die Geschwindigkeit deutlich langsamer als in Nordeuropa.
Aber wo ist das Dolce Vita noch vorhanden, wo lebt es sich am langsamsten?
In Mexiko, Indonesien und Brasilien. Diese Länder leben nach „amanha“, der Gummizeit. Wenn man beispielsweise Brasilianer fragt, wie lange sie auf jemanden warten würden, mit dem sie zum Mittagessen verabredet sind, kommt man im Durchschnitt auf 62 Minuten. In Ländern wie Deutschland oder den USA haben die Menschen oft nur eine halbe Stunde für ihre Mittagspause und würden niemals so lange warten.
Gab es auch Unterschiede innerhalb eines Landes?
Das haben wir vor allem in den USA erforscht. In den Städten geht es meistens schneller zu als auf dem Land. Aber es gab auch regionale Unterschiede: Im Nordosten, in Städten wie New York oder Boston, war die Geschwindigkeit deutlich höher als in ähnlich großen Städten wie Los Angeles oder San Francisco, die im Südwesten liegen.
Spielt das Wetter also eine Rolle bei dem Tempo, in dem wir leben?
Definitiv – wenn es wärmer wird, wird alles ein wenig langsamer. Auch die Bevölkerungsdichte ist entscheidend: Je mehr Menschen zusammenleben, umso schneller leben sie in der Regel. Der wichtigste Zusammenhang besteht aber zwischen Lebenstempo und Wirtschaftskraft eines Landes. In Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen und hoher Kaufkraft finden wir immer auch eine hohe Lebensgeschwindigkeit vor. Da geht es um Produktivität, man darf keine Zeit verschwenden, denn „Zeit ist Geld“.
Konnten Sie herausfinden, was die Ursache ist und was die Wirkung?
Es ist ein Kreislauf. Schnelle Orte werden wohlhabender – und wohlhabende Orte werden schneller. Menschen, die mit dem Tempo einer Stadt oder eines Landes unzufrieden sind, werden zum Beispiel eher wegziehen. Dafür kommen Leute dazu, die auf das entsprechende Tempo stehen. Oder sie trainieren sich das entsprechende Tempo an, das an dem Ort herrscht.
Die Industrienationen exportieren ihren Lebensstil in die ganze Welt – Markenprodukte, Kinofilme, Musik. Zwingen wir dem Rest der Welt auch unser Verständnis von Zeit auf?
Ja, wir sind absolut kolonialistisch, was das angeht. Wer im Spiel der internationalen Wirtschaft mitspielen will, der muss nach unseren Regeln spielen. Und das bedeutet eben: keine Gummizeit, sondern exakte Zeit, lineare Zeit. Jeder Moment zählt, Dinge müssen pünktlich geliefert und Bürozeiten eingehalten werden. Und jeder in der so genannten Dritten Welt weiß das inzwischen.
Zu welchen Konsequenzen oder Problemen führt dieser Zeitimperialismus?
Ein gutes Beispiel ist einer meiner Doktoranden. Er kommt aus Burundi in Ostafrika, und als er eines Tages seine Heimat besuchte, traf er sich mit seinem Onkel. Nachdem sie eine Weile geredet hatten, stand der junge Mann auf und sagte seinem Onkel, er müsse aufbrechen, da er noch einen wichtigen Termin habe. Er war stolz darauf, denn er wollte, dass sein Onkel sah, dass er es zu etwas gebracht hatte. Aber der Onkel war nicht stolz auf seinen Neffen, sondern empört.
Weil der Termin wichtiger war als er?
Genau. Der Onkel lebt nach dem, was ich „Ereigniszeit“ nenne. Man tut nicht das, was in einem Terminkalender steht, sondern das, was einem in diesem Moment wichtig ist. Und dass der Neffe eine geschäftliche Besprechung einem Verwandten vorzog, den er jahrelang nicht gesehen hatte, war für den Onkel ein klarer Affront. In Europa würde man das viel eher verstehen – auch wenn ich persönlich sagen würde, dass der Onkel nun nicht völlig falsch liegt.
Sollten wir mehr nach Ereigniszeit leben?
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin sehr froh, dass meine Studenten nicht nach Ereigniszeit leben, sondern dann zu meinen Kursen und Sprechstunden kommen, wenn sie stattfinden – und nicht, wenn es ihnen gerade in den Kram passt. Aber ich denke, dass wir es manchmal ein wenig übertreiben, dass wir unsere Terminkalender zu voll stopfen und zu wenig Zeit für Spontaneität und menschliche Bedürfnisse lassen.
Da würden Ihnen sicherlich die meisten Menschen zustimmen. Wir alle klagen ständig darüber, dass wir so gehetzt sind und es lieber etwas langsamer angehen würden. Was hält uns davon ab, das endlich zu tun?
Da müssen Sie vielleicht einen Psychotherapeuten fragen, warum sich die Menschen so gerne und oft selbst täuschen. Warum alle davon reden, aus dem Hamsterrad auszusteigen – und es dann doch nicht tun. Ein nahe liegender Grund: Viele Menschen sind natür-lich aus finanziellen Gründen gehetzt. Eine allein erziehende Mutter, die zwei Jobs hat, um ihre Kinder zu ernähren, kann sich nicht aussuchen, wie hektisch ihr Leben ist.
Aber es klagen ja auch viele Menschen, die mehr als genug Geld verdienen.
Das stimmt – und dabei kommt der Suchtfaktor ins Spiel. Wir sind süchtig nach Geschwindigkeit. Sie stimuliert und treibt uns an und wir werden von der existenziellen Angst geplagt, dass sich eine riesige Leere vor uns auftun könnte, wenn wir langsamer leben oder einmal innehalten. Der Terror der Langeweile ist einer der größten Schrecken unserer gehetzten Welt.
Wir wären also auf der einsamen Insel gar nicht so glücklich, wie wir immer denken?
Wenn man die Menschen aus ihrem hektischen Leben herausnehmen und in ein ruhigeres, beschauliches Leben hineinsetzen würde, würde das für die meisten von ihnen nicht weniger, sondern mehr Stress bedeuten. Ich habe in meinen Studien ja auch den Zusammenhang zwischen Lebenstempo, Gesundheitsrisiko und Zufriedenheit erforscht.
Und wer ist gesünder, wer ist glücklicher – der Langsame oder der Schnelle?
Menschen mit einem hohen Lebenstempo haben ein siebenmal höheres Risiko, Herzerkrankungen zu bekommen, und ein doppelt so hohes Herzinfarktrisiko. Das liegt an verschiedenen Faktoren, unter anderem auch daran, dass Menschen mit hohem Lebenstempo auch häufiger rauchen und mehr Alkohol trinken…
… und demnach auch unzufriedener mit ihrem Leben sind.
Eben nicht! Man nimmt ja immer an, dass die Menschen, die an langsamen Orten leben, am glücklichsten sind. Eingeborene in idyllischen Dörfern, die mit wenig zufrieden sind und in den Tag hinein leben. Aber alle unsere Studien haben ergeben, dass es genau umgekehrt ist: Je schneller der Ort, desto glücklicher sind die Menschen, die dort leben. Das hängt natürlich sehr stark mit dem Wohlstand zusammen, denn schnelle Orte sind wohlhabender und wirtschaftlicher Wohlstand ist ein wichtiger Faktor für die individuelle Zufriedenheit der Menschen.
Müssen wir also gar nicht langsamer leben, um glücklicher zu sein? Müssen wir uns einfach nur damit abfinden, dass wir in einem Hamsterrad stecken, das sich immer schneller dreht?
Nein. Die wichtigste Erkenntnis ist die, dass es keine Entweder-oder-Entscheidung ist. Wir müssen Wege finden, zwischen schnellem und langsamem Tempo zu wechseln. Denn beides ist auf Dauer für die meisten von uns nicht gut. Wir müssen also akzeptieren, dass wir oft gehetzt sind. Aber ebenso müssen wir uns ab und zu zwingen, nichts zu tun, müssen unsere Angst vor der Langeweile überwinden. Denn wenn wir uns nicht ab und zu die Zeit nehmen, uns zu langweilen, können wir uns irgendwann auch nicht mehr über die aufregenden Momente freuen.
Wie finden wir die richtige Geschwindigkeit für unser Leben?
Die muss jeder für sich selbst herausfinden. Unser Gehirn nimmt Zeit völlig unterschiedlich wahr. Das merkt jeder daran, dass eine Minute unendlich lang sein, aber auch blitzschnell vorbeigehen kann. Deshalb nehmen wir auch unser Lebenstempo unterschiedlich wahr. Manchmal empfinden wir Ruhe als entspannend, manchmal kann sie auch zu blanker Depression führen. Wir müssen also darauf achten, wann wir Ruhe und wann wir Aufregung brauchen.
Wie machen Sie das?
Wenn ich meinen Verpflichtungen nachgehe, frage ich mich regelmäßig: Muss ich das wirklich heute, genau jetzt tun? Oft merke ich dann, dass ich auch genauso gut mit meinen Kindern spielen kann. Das macht meistens mehr Spaß – und die Welt bricht auch nicht zusammen.
Robert Levine,60,ist Professor für Psychologie an der California State University und Autor des Buches „Eine Landkarte der Zeit“ (Piper Verlag).Er legt Wert darauf, keine Armbanduhr zu tragen, und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Fresno, Kalifornien – einer der langsamsten Städte, wie
seine Messungen in den USA ergaben.
Interview: Christoph Koch
Erschienen in: Fluter Magazin