Warum behaupten eigentlich alle in letzter Zeit, die Generation NEON sei ENTSCHEIDUNGSUNFÄHIG? Eine Verteidigung der Wahlfreiheit.
Was haben wir uns nicht schon alles anhören müssen. Dass wir zu wenig Kinder kriegen. Dass wir Wohlstandskinder sind. Doch die neueste Anschuldigung ist ein Stachel, der tiefer steckt. Sie greift unser Weltbild an: Immer häufiger wird unsere Generation mit dem Vorwurf konfrontiert, sich nicht entscheiden zu können. Sich nicht festlegen zu wollen. Wankelmütig und unentschlossen zu sein. Die Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2006 zeigt sich besorgt, dass sich die Generation der 14- bis 25-Jährigen durch mangelnde Entscheidungsfreude »großer Chancen« beraubt. Das kurzfristig auferstandene Zeitgeistblatt »Tempo« geißelt uns als Jeinsager, denen alles so irgendwie halb egal ist. Und eine große deutsche Zeitung ruft die »Generation Option« aus. Doch was, wenn ein Wesenszug dieser Generation – das Aufschieben von Entscheidungen – gar keine Unfähigkeit darstellt? Was, wenn die Bereitschaft, bereit zu bleiben für Neues, eine Tugend ist, aus der Not, der Wirklichkeit, geboren?
Es soll hier nicht um Leute gehen, die stundenlang auf Karten starren und sich nicht entscheiden können, ob sie lieber ein Bier trinken mögen oder einen Gin Tonic. Diese Menschen sind vor allem eins: anstrengend. Es geht hier auch nicht um Leute, die wahllos von Studienfach zu Studienfach hüpfen und nicht den Schimmer einer Ahnung haben, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Diese Menschen sind bedauernswert. Nein, hier soll die Rede sein von denen, die durchaus wissen, wohin sie wollen – aber eben auch, dass der Weg kurvenreich sein kann. Und die ahnen, dass die Welt sich so schnell ändert, dass wir in zehn oder vielleicht in fünf Jahren schon wieder andere Wünsche haben, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Nicht aus Wankelmütigkeit. Sondern weil sich die gesellschaftlichen Parameter verändert haben.
Dem Drehbuchautor, der von seinem Wunschberuf noch nicht leben kann und der deshalb dreimal die Woche kellnern geht, wird gerne vorgeworfen, er sei halbherzig. Er solle Flagge zeigen, Schluss machen mit den Kompromissen. Der jungen Designerin, die mit ihren Verkäufen im Moment gerade ihre Kosten deckt und die deshalb halbtags in einem Callcenter arbeitet, halten andere gerne fehlenden Idealismus, einen Mangel an Mut, ein Minus an Entschlusskraft vor. Dabei haben beide eine klare Entscheidung getroffen: zu versuchen, das zu tun, was sie wirklich, wirklich wollen – auch zu dem Preis, zumindest zeitweise einer ungeliebten Tätigkeit nachzugehen.
»Kannst du dich nicht endlich mal verbindlich entscheiden?«, fragte die Hamburger Band Die Sterne vor zehn Jahren in einem Song – und diese Forderung hört man heute öfter denn je. Sie an die beiden beschriebenen Doppeljobber zu richten, bedeutet im Grunde, dass der Autor einen Job annehmen müsste, bei dem er für Sat1 schlechte Comedyserien mit halbgaren Pointen versieht. Dass die Designerin die Nähmaschine in den Schrank räumen sollte und Vollzeit im Callcenter anheuert. Beides kann zu einem geregelteren Leben führen – aber mit ziemlicher Sicherheit auch zu Unzufriedenheit, Selbsthass und einem Leben in stiller Verzweiflung.
Darüber, wie viele Menschen in zweigleisigen Arbeitsverhältnissen leben und ihre Zeit zwischen reinem Broterwerb und leidenschaftlicher Tätigkeit aufteilen, gibt es keine genauen Zahlen. Ein guter Indikator dafür, dass es ständig mehr werden, ist die Künstlersozialkasse (KSK). Hier können sich freiberufliche Künstler günstig sozialversichern – 2006 machten über 154 000 Deutsche von diesem Angebot Ge – brauch, mehr als dreimal so viele wie fünfzehn Jahre zuvor. Dass dieser Zuwachs nicht durch schwer reiche Bildhauer und überbezahlte Bestsellerautoren zustande kam, sondern eher durch »Durchwurstler«, zeigt das Durchschnittseinkommen der Versicherten: weniger als 1000 Euro pro Monat.
Früher war wie immer alles einfacher – alle waren sich einig, was es zu erreichen galt (Festanstellung, Kinder, Eigenheim) und wie man es erreichte (gute Noten, Verlobung, Bausparvertrag). Das war klar – aber nicht unbedingt gut. Nach den Zeiten, in denen ein Sohn den Beruf seines Vaters übernehmen musste und Frauen sowieso nicht gefragt wurden, was sie mit ihrem Leben jenseits eines Mutterdaseins anfangen wollten, sehnt sich jedenfalls niemand zurück. Ebenso wenig nach der Zeit, in der man sich als junger Mensch entscheiden musste, ob man Popper sein wollte oder nicht. Doch genau an diese überholten Abgrenzungen aus den 80ern erinnert der Befehl an unsere Generation, jetzt doch bitte mal das Herumspielen sein zu lassen und sich mit Haut und Haaren der einen Karriere zu verschreiben, die man gerade ergattern kann. Der Essayist Paul Graham plädiert indes für das exakte Gegenteil: In seinem Aufsatz »How To Do What You Love« wirbt er dafür, sich nicht mit weniger zufriedenzugeben als mit dem Job, den man liebt. Und gibt offen zu, dass man unter Umständen 30 oder 40 Jahre alt werden muss, um dieses Ziel zu erreichen. »Entscheidet euch nicht zu früh«, rät er. »Kinder, die schon früh wissen, was sie später tun wollen, wirken beeindruckend, so, als ob sie eine Matheaufgabe vor allen anderen Kindern gelöst hätten. Sicher, sie haben eine Antwort, doch die Chance, dass sie falsch liegen, ist hoch.« Graham plädiert dafür, beim Design des Lebens auf dieselben Dinge zu vertrauen wie alle Designer: auf flexible Werkstoffe.
Es geht ja nicht nur um die Berufswahl, sondern um die gute alte Frage: »Wie will ich leben?« Die Extreme haben dabei die Generationen vor uns bereits ausgelotet, sei es in Form der durchpolitisierten 60er Jahre oder in der hedonistischen Variante der 80er. Aus beidem haben wir gelernt. Wir haben verstanden, dass auf ein paar zusammengeschobenen Holzpaletten ebenso unerträgliche Idioten schlafen können wie auf feinstem Damast. Aber auf beidem eben auch kluge und liebenswerte Geschöpfe.
Wir haben gelernt, die Extreme zu meiden – oder spielerisch mit ihnen umzugehen. Das mag den Befürwortern radikaler Entscheidungen wie fragwürdiges Wischiwaschi vorkommen. Aber ist es nicht weit weniger fragwürdig zu versuchen, menschenwürdig über die Runden zu kommen, als eine stringente, konsequent geplante und durchgezogene Karriere als Filialleiter zu verfolgen? Der Gedanke, sich so früh wie möglich auf einen Lebensentwurf festzulegen, ist nicht nur absurd, er ist auch gefährlich. Sicher können wir schon während unserer Schulzeit Neigungen und Begabungen feststellen. Doch selbst nach einer Handvoll Praktika wissen wir im Grunde wenig darüber, wie es wirklich ist, in diesem oder jenem Beruf ein Leben lang zu arbeiten. Warum sollten wir also gezwungen werden, uns verbindlich auf einen festzulegen? Die Studie »Globalife«, die fünf Jahre lang Lebenslaufentscheidungen in einer globalisierten Welt untersucht hat, verteidigt diejenigen, die sich dafür entscheiden, sich Optionen offenzuhalten – im beruflichen wie im privaten Bereich. Die Weigerung, sich fest zu binden, entspringe nicht, wie so oft behauptet, einer unsozialen Selbstsucht, so der Studienleiter Hans-Peter Blossfeld, sondern stelle einen vernünftigen Selbstschutz dar. Angesichts des dramatischen Wandels, den die Globalisierung mit sich bringt, ist der Wunsch nach Flexibilität verständlich. Auch Holm Friebe, der zusammen mit Sascha Lobo das Buch »Wir nennen es Arbeit« geschrieben hat, bricht eine Lanze für die Entscheidung, sich erst mal noch nicht zu entscheiden. »Zweigleisig zu fahren mit einer Tätigkeit, die einem Spaß macht, aber noch kein Geld bringt und einem Graubrotjob, der die Miete zahlt, kann ein sinnvolles Modell sein«, erklärt der Autor. »Ich halte es nur für wichtig, dass man sich einen Graubrotjob sucht, der nicht zu viel Spaß macht. Sonst besteht die Gefahr, dass man sich irgendwann damit zufriedengibt und das eigentliche Ziel aus den Augen verliert.«
Natürlich wäre es schön, wenn alle Menschen das tun könnten, was sie wollen. Wenn das Geld vom Himmel fiele. Wenn niemand Jobs annehmen müsste, um die Miete zu bezahlen. Doch als wir das letzte Mal nachgesehen haben, war dieser Zustand nicht in Sicht. Und so lange dies nicht so ist, sind wir gut beraten, wenn wir denen, die uns ihre eigene Unfreiheit aufzwingen wollen, ein Schnippchen schlagen. Und dafür die Freiheiten, die uns gegeben sind, so intensiv wie möglich umarmen. Mit Unentschlossenheit und schwacher Willenskraft hat das nichts zu tun. Sondern nur mit der Erkenntnis, dass ein Weg nicht automatisch der richtige ist, nur weil es ein gerader ist. Wenn er uns an einen Ort führt, an dem wir nicht sein wollen, nehmen wir lieber die Serpentinenstraße.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: NEON