Während Ursula von der Leyen noch so tut, als müsse man mit Geldgeschenken für einen Bewusstseinswandel der Gesellschaft kämpfen, ist diese längst viel weiter: Fortpflanzung ist so cool geworden, dass man sich ohne Säugling kaum noch auf die Straße traut. Doch Eltern können auch nerven. Der offene Brief eines Nachwuchslosen.
Liebe Eltern!
Seid fruchtbar und mehret euch« – ihr habt genau das getan. Das ist ohne Zweifel mutig – und es gebühren euch Glückwünsche, Lob und bewundernde Blicke. In Zeiten von individualistischen Singles mit Riesenegos statt Opferbereitschaft nehmt ihr Verantwortung auf euch und monatelangen Schlafentzug in Kauf. Ihr seid Helden, klarer Fall. Und wir – diejenigen ohne Kinderwagen, Spucktuch und seligen Mutterglanz in und Ringe unter den Augen – nur neidisch und verbittert. Trotzdem gibt es ein paar Dinge, die wir euch einmal sagen wollen. In aller Freundschaft.
1. Am Hörer bleiben
Auch wenn ihr es nicht für möglich haltet: Eure süße Lena ist noch zu klein zum Telefonieren. Wenn ihr den Hörer also an euren Nachwuchs weiterreicht, beginnen für uns Minuten der Agonie. Während drüben die Sprechmuschel unter lautem Krähen gegen das Laufstallgitter gedonnert wird, halten wir am dröhnenden anderen Ende der Leitung tapfer aus, bis Mami wieder an die Strippe zurückkehrt. Oder die Verbindung unterbrochen wird, als das Telefon mit einem lauten Blubb im Breiteller versinkt.
Ebenso furchtbar ist für uns das nahtlose Um – schalten zwischen Telefonat und Liveerziehung: »Das ist ja wirklich blöd mit der Kündigu …Jonas, kannst du bitte aufhören, den Schlamm von deinem Schuh zu lecken? … Hast du denn schon was Neues in Aussi … Zum allerletzten Mal – nimm die Finger weg von der Steckdose.« Wenn wir euch anrufen, wollen wir gerne mit euch sprechen. Nicht mit eurem Nachwuchs und nach Möglichkeit auch nicht mit mühsam zusammengekratzten zehn Prozent eurer Aufmerksamkeit.
Wenn es gerade ungünstig ist, rufen wir lieber ein anderes Mal erneut an.
2. An Details sparen
Eltern sind wie Krankenschwestern: hart im Nehmen. Wer die Verantwortung für andere Menschen übernimmt – egal ob Säuglinge oder Sieche – darf nicht zimperlich sein, wenn es beispielsweise um Körperflüssigkeiten geht.
Wir müssen dennoch die Mousse au Chocolat, auf die wir uns so gefreut haben, seufzend von uns wegschieben, wenn ihr beim ersten Löffel anfangt, den exakten Status quo von Paulines Verdauung zu beschreiben. Für euch fällt das alles noch unter die Rubrik »Wunder des Lebens« – für uns sind und bleiben es leider Kacke und Kotze.
Gleiches gilt für minutiöse Schilderungen des Geburtsvorgangs. Kinderlose Frauen finden vor allem drastische Bowlingkugelvergleiche unnötig bis verstörend – männliche Zuhörer wünschen sich hingegen meistens dann an einen anderen Ort, wenn eine langjährige Freundin überdeutlich die Anatomie ihres Intimbereichs beschreibt, der diesen Namen nach dieser Schilderung definitiv nicht mehr verdient.
3. Fotos auch mal stecken lassen
Es ist ganz einfach: erleben = spannend. Fotos angucken = langweilig. Das gilt für den Australienurlaub ebenso wie für Babys. Schon klar, dass ihr euch nicht dran sattsehen könnt. Wir haben das aber ehrlich gesagt schon vor einer Stunde getan. Genau, bei Bild vier.
4. Gelegentliche Namensschwäche verzeihen
Okay, ihr habt uns erwischt. Es ist uns auch peinlich, wenn wir vergessen, wie euer kleiner Wonneproppen heißt. Und wir uns mit offensichtlichen Tricks behelfen müssen wie: »Na, wie geht’s dir … äh, kleiner Wonneproppen?« Allein dass wir dieses Wort in den Mund nehmen müssen, ist Strafe genug. Dafür, dass uns gerade nicht einfällt, ob ihr bei der Namensgebung auf den Bibeltrend aufgesprungen seid (Lea, Aaron, Moses) oder der Mode der Kaiserreichrenaissance folgt (Pauline, Oskar, Heinrich).
Wir meinen es wirklich nicht böse. Aber in unserem Bekanntenkreis kommen derzeit eben jeden Monat acht neue Jakobs, Sophies oder Leonies dazu. Da kann man schon mal durcheinanderkommen.
5. Nicht hinter dem Kind verschwinden
Wenn wir fragen »Wie geht’s dir?«, dann wollen wir genau das wissen. Was wir stattdessen aber zu hören bekommen: »Der Paul hatte letzte Woche schlimmen Durchfall« oder »Leon bekommt gerade Zähne«. Schon klar, dass das Befinden eurer Kinder wichtig ist – und sich auch unmittelbar auf eure Verfassung auswirkt. Aber Eltern, die nur noch von ihren Kindern reden, sind sogar schlimmer als Mädchen, die jeden zweiten Satz mit »Mein Freund …« beginnen.Und das will wirklich was heißen.
6. Bei der Themenauswahl mitdenken
Wir haben es also endlich mal wieder geschafft: Wir sitzen mit euch gemeinsam in einer Bar, die Kinder hütet entweder euer Partner oder ein Babysitter. In jedem Fall sind sie nicht anwesend. Und doch sind sie da. Denn egal, wohin das Gespräch auch mäandert, ihr führt es regelmäßig wieder auf einer schnurgeraden Linie zurück zum Thema Kind. Wir reden über eine Reise zum Mond – ihr erzählt: »Der kleine Finn sagt ja immer ›ohng‹, wenn er ›Mond‹ meint …« Und wenn ihr schon mal beim Thema seid, folgen auch gleich die Babybegriffe für Tür, Brei und Telefon. Und was sagt der Kleine für »Das interessiert mich nicht, wir haben auch gerade über etwas völlig anderes geredet«?
Einem Zahnarzt ist sein Beruf mit Sicherheit auch extrem wichtig – trotzdem weiß er, dass er nicht ständig über Zähne reden darf, wenn er in seiner Freizeit Nichtzahnärzte trifft. Und selbst der leidenschaftlichste Surfer weiß, dass er ein paar andere Themen als Wind und Wachs und Wellen braucht, wenn ihn seine Mitmenschen nicht für einen komplett selbstbezogenen Idioten halten sollen. Ausgerechnet euch jungen Eltern scheint diese Form von Empathie – was könnte sowohl mich als auch meinen Gesprächspartner interessieren? – abhanden gekommen zu sein. Doch ohne sie wird jedes Gespräch eine Qual. Noch eine schlechte Nachricht: Den einzigen Teil des Abends, in dem ihr euch wenige Sekunden lang nicht für euer Kind, sondern für euren Gesprächspartner interessiert, hassen wir leider auch. Es ist der Moment, in dem ihr die Frage stellt: »Und? Wann ist es eigentlich bei dir mal so weit?«
7. Nicht jeden Ort erobern
Bitte stellt euch einmal vor, wir kämen mit ein paar Freunden und einem Sixpack Bier in eure Krabbelgruppe, würden uns in eure Mitte setzen, uns Zigaretten anzünden und anfangen, schmutzige Witze zu erzählen. Irgendwie komisch, oder? Nicht weniger komisch ist es jedoch, wenn wir in unser Lieblingscafé gehen wollen und eine Krabbelstube vorfinden. Nachdem wir uns an den drei überdimensionalen Kinderwägen vorbeigeschoben haben, die den vorderen Teil des eher kleinen Cafés komplett ausfüllen, brechen wir uns beinahe den Hals, als wir auf irgendetwas steigen, das aus Plastik ist und rollt.
Als wir endlich sitzen, versucht links von uns eine Frau, eine ihrer Brustwarzen in den Mund ihres schreienden Babys zu stopfen – leider weder erfolgreich noch ästhetisch zumutbar. Rechts von uns sitzt ein Pärchen, das sich laut über musikalische Früherziehung unterhält, während sich ihr Kind relativ unmusikalisch auf unsere Füße erbricht. Überhaupt scheint ihr jungen Eltern das Gefühl für Lautstärke verloren zu haben:
Selbst wenn ihr nicht gerade eure Kinder quer durch den ganzen Raum maßregelt, kommuniziert ihr alles eine Handvoll Dezibel lauter als eigentlich nötig. Was halb so schlimm wäre, wenn ihr inzwischen eben nicht alle Cafés, Bars und Restaurants okkupieren würdet, die bis vor einer Weile noch Refugium alleinstehender junger Menschen auf Partnersuche waren. Als unser Essen schließlich kommt, wechselt die Brustwarzenstopferin ihrem nun satten Baby die Windeln – zwei Meter von unserem Teller entfernt. Wir essen tapfer und versuchen nicht zu atmen. Als wir uns nach dem Essen eine Zigarette anzünden, kommt nach dem zweiten Zug die wie immer zu laute Stimme der Windelmutter an den Tisch geklirrt: »Hey, kannst du vielleicht deine Zigarette ausmachen? Der Kleine hier kriegt den ganzen Rauch ab.«
8. Die Würde des Kindes achten
Wir wissen, ihr seid unterm Strich topgute Eltern. Trotzdem gibt es da diese Momente, in denen wir zusammenzucken und denken: »Das hat er/sie jetzt nicht wirklich gesagt, oder?« Das sind vor allem die Momente, in denen ihr den kleinen Menschen unbarmherzig ihre Würde raubt: Wenn beispielsweise ein harmloser Babyfurz nicht etwa ignoriert, sondern durch laute »Aahhs« und »Oohhs« zu einer lobenswerten Leistung gesteigert wird. Wenn die Mutter beim Wickeln des kleinen Jakob nicht vergisst, darauf hinzuweisen, wie »süß der kleine Pillermann« zwischen seinen Beinchen doch sei. Ihr meint es gut – wir wittern ein sich anbahnendes Trauma.
9. Nicht alles glauben
Wenn ihr die zum dritten Mal verschobene Verabredung schon wieder fünf Minuten vorher per SMS absagt, während wir bereits mit Kinokarten und Popcorneimer im Kinofoyer stehen – zeigen wir natürlich Verständnis. Aber sollen wir euch was verraten? Es ist gelogen.
10. Kritikfähig bleiben
Wir sind keine Experten in Sachen Minimensch. Wir wissen, wie herum man ihn halten muss – damit hört es dann aber auch schon auf. Trotzdem müsst ihr uns gestatten, ab und zu mal nachzufragen, ob alles seine Richtigkeit hat. Wenn wir zum Beispiel darauf hinweisen, dass die kleine Clara immer mehr ins Bläuliche changiert, während sie nackt auf einer Decke liegt, werden eure Augen zu winzigen Luken voller Hass: »Das gehört zum PEKiP!«, zischt ihr uns an.
Und während wir uns mühsam daran erinnern, dass dieses Kürzel für Prager-Eltern- Kind-Programm steht, schiebt ihr noch das absolute Totschlagargument hinterher: »Krieg du erst mal Kinder!« Der kinderlose Trottel hat eben keine Ahnung. Komisch ist nur: Als es früher darum ging, welches Auto ihr kaufen, mit welchen Menschen ihr Schluss machen oder welches Fach ihr studieren sollt, stand unser gesunder Menschenverstand irgendwie höher im Kurs.
11. Nichts durcheinander bringen
Wir mögen Kinder. Ganz im Ernst. Was wir nicht mögen, sind Eltern, die glauben, ihr Kind müsste nicht nur das Zentrum ihres Universums sein – sondern auch des unseren.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: NEON