Während im sächsischen Mügeln acht Inder mit Nazi-Parolen beschimpft und durch die Stadt gehetzt werden, kämpft man in Rostock-Lichtenhagen noch immer mit der Vergangenheit: Vor 15 Jahren griffen hier dreitausend Menschen ein Wohnhaus für Asylbewerber an – die massivsten ausländerfeindlichen Übergriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte. Heute will niemand mehr etwas davon wissen.
»Das bisschen Totschlag Bringt uns nicht gleich um
Ich kann den ganzen Scheiß einfach nicht mehr hören
Sagt mein Mann.
Ist ja gut jetzt, alte Haut
Wir haben schon Schlimmeres gesehen
Und ich sag noch
Lass uns endlich mal zur Tagesordnung übergehen.«
(Die Goldenen Zitronen)
Die Eisentreppe ist inzwischen neu gestrichen. Aber die Gittertür, die den Zugang aufs Dach versperrt, ist immer noch genauso massiv. »Ich weiß nicht mehr, wie wir die damals aufbekommen haben«, sagt Wolfgang Richter und schüttelt seine grauen Locken. »Wir hatten eine Eisenstange und eine Axt aus einem dieser Notfallkästen im Treppenhaus. Die unteren Stockwerke standen da ja schon in Flammen, man konnte vor lauter Rauch fast nichts mehr sehen.« Richter, damals wie heute Ausländerbeauftragter der Stadt Rostock, tritt auf das Flachdach des »Sonnenblumenhauses« in Rostock- Lichten hagen. Ein freundlicher Name für ein tristes Plattenbau-Hochhaus, das 1992 Schauplatz der massivsten ausländerfeindlichen Gewalttaten der deutschen Nachkriegsgeschichte war. Die überfüllte »Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber« (ZASt) hatte damals den Unmut der Anwohner so erregt, dass sie drei Nächte hintereinander zuerst die ZASt angriffen, nach deren Räumung dann das daneben gelegene Wohnhaus, in dem überwiegend vietnamesische Gastarbeiter aus DDR-Zeiten lebten.
Wolfgang Richter tritt vorsichtig an die Kante des Dachs heran, der Wind lässt sein Hemd flattern. Er sieht nach unten. Elf Stockwerke tiefer, auf einer großen Wiese vor dem langgezogenen Wohnblock, stand im August vor 15 Jahren ein Mob von rund 3000 Menschen: Rostocker Bürger und angereiste Neonazis warfen Steine und Brandsätze in das Haus, beschossen es mit Leuchtspurmunition – oder feuerten diejenigen an, die es taten, und schützten sie vor dem Zugriff der Polizei. In der einen Hand Bier, in der anderen eine Bratwurst von den eilig aufgestellten Imbissbuden. »Jetzt werdet ihr gegrillt!«, schrien sie und »Wir kriegen euch alle!«, und die umstehenden Wohnblocks warfen den Schall zurück, sodass es lauter dröhnte als der Fanblock des örtlichen Ostseestadions. Wolfgang Richters Stimme zittert, als er von der Mischung aus Bürgerkrieg und Volksfest berichtet, die sich vor dem Haus abspielte. Während er darin zusammen mit 115 Vietnamesen und einigen deutschen Sympathisanten und Fernsehjournalisten festsaß. »Ich werde diese Nächte nie wieder vergessen «, sagt er. »Die Todesangst, die Parolen, die unten geschrien wurden – selbst als wir auf dem Dach waren, wussten wir ja nicht, ob wir überleben würden.« Um von der aufgestachelten Menge nicht gesehen zu werden, krochen Richter und die Vietnamesen in kleinen Gruppen über das Flachdach. Drei Treppenhäuser weiter kletterten sie wieder nach drinnen, klopften an die Wohnungstüren ihrer deutschen Nachbarn. Vielleicht hat jemand ein Glas Wasser für die vor Angst zitternden Kinder oder die vom Rauch brennenden Augen? Die meisten machten die Tür gar nicht erst auf.
Erst als sie sich nach unten durchgeklingelt hatten, wurde ihnen geholfen: Die Mieterin Rosemarie Melzer und ihr Mann versorgten die, denen es am schlechtesten ging, und sorgten dafür, dass zwei Busse der Polizei die Vietnamesen an einem Hinterausgang abholen und heimlich in Sicherheit bringen konnten.
Wenn man mit Rosemarie Melzer heute über die Brandnacht sprechen möchte, bekommt man eine höfliche, aber bestimmte Absage: »Diese Geschichte ist für uns abgeschlossen.« Verständlich – denn ihre Zivilcourage wurde damals rigide bestraft: Monatelang wurde die Pädagogin am Telefon bedroht und beschimpft. Trotzdem nahm sie es auf sich, bei den Prozessen gegen die Täter auszusagen. Als fast alle Beschuldigten nur geringe Jugend- und Bewährungsstrafen erhielten, fiel sie endgültig vom Glauben an den Rechtsstaat ab: »Jetzt kommen die schon wieder ungeschoren davon.« Das Rostocker Gericht hatte von rund 400 Angeklagten 40 verurteilt, die meisten davon zu Jugendstrafdienst. Nur einer der Täter wurde drastischer bestraft – er hatte einen Brandsatz auf einen Polizisten geworfen.
Kein Wort des Bedauerns
Auch Ronny Sanne kam mit Bewährung davon. Zusammen mit seinen beiden Freunden André B. und Enrico P. stand er erst 2001 – also neun Jahre nach den eigentlichen Vorfällen – in Schwerin vor Gericht. Alle übrigen Verfahren waren in Rostock relativ zügig über die Bühne gegangen, doch der Schweriner Richter Horst Heydorn ließ sich Zeit. So viel Zeit, dass später eine Klage wegen Verschleppung des Verfahrens gegen ihn eingereicht wurde. Aber auch so viel, dass die Anklage nun nicht mehr nur auf Landfriedensbruch und Brandstiftung lautete (wie in den meisten anderen Fällen), sondern auf versuchten Mord. Denn in einem Präzedenzfall war zwischenzeitlich entschieden worden, dass in Mordabsicht handelt, wer einen Brandsatz auf ein Haus wirft – unabhängig davon, ob er glaubt, das Haus sei leer. Alle drei erhielten Bewährungsstrafen, Ronny war zu dem Zeitpunkt bereits in Haft – aufgrund anderer Gewaltdelikte.
Genau so wie André, der sitzt noch immer. Enrico hat eine Familie und einen Job, Ronny hat vor allem den Fußball. Für Frauen habe er keine Zeit. Kinder? »Nicht, dass ich wüsste. Zumindest geht vom Konto nix weg.« Zusammen besuchen Enrico und Ronny regelmäßig ihren Kumpel André in der nahe gelegenen JVA Bützow, »wir sind schließlich seit 25 Jahren befreundet.« Ronny Sanne verbringt seine Tage inzwischen auf dem Gelände des SG Dynamo Schwerin.
Der alte Ostclub war nach der Wende durch eine Fusion mit einem anderen Verein am Ort verschwunden, 2003 formierte er sich wieder. Sanne arbeitet seit 2004 als Fanbetreuer für das Projekt »Fan statt Hooligan«, das vom Landesinnenministerium finanziell gefördert wird. In einer kleinen Hütte am Rande des Schweriner Stadions Paulshöhe, die er mit anderen Fans renoviert hat, betreiben sie gemeinsam den Fanshop, organisieren die Fahrten zu Auswärtsspielen, und »wenn einer mal Probleme hat, dann kann er hier drüber quatschen«.
Dass ausgerechnet ein verurteilter Täter der Lichtenhäger Randale ein solches Projekt leitet, sorgte nicht nur in linken Kreisen für Protest. »Dabei bin ich genau der Richtige für so ein Projekt «, antwortet Sanne ruhig auf die Vorwürfe. »Ich gehe seit über 20 Jahren ins Stadion. Ich weiß, was da abgeht. Und wenn ich den Jungs sage, sie sollen mal ein bisschen weniger saufen und ein bisschen ruhiger machen, dann hören sie auf mich.« Mit »dem ganzen Nazischeiß« hat er nichts mehr zu tun, sagt Ronny, »damit habe ich abgeschlossen. In der Arbeit hier habe ich meinen Frieden gefunden.« Und das glaubt man ihm sogar. Stolz erzählt er von den letzten drei Jahren, in denen Dynamo dreimal aufgestiegen ist. Schwärmt von den für die Vereinsgröße sagenhaften Zuschauerzahlen.
Gerüchte über die rechtslastige Fanbasis des Vereins wischt er weg. »Seit der Neugründung hatten wir keinen einzigen gewalttätigen Vorfall. Viele Spieler sind Polizeibeamte, unser Kotrainer ist bei der Kripo – die würden so etwas nicht dulden.« Trotzdem: Ebenso deutlich wie das, was der tätowierte Kraftsportler sagt, ist das, was er nicht sagt. Vergeblich wartet man auf Sätze wie »Ich könnte niemals Brandsätze auf Menschen werfen« oder »Was damals passiert ist, war schrecklich« oder »Ich bin froh, dass dabei niemand umgekommen ist«. Nichts dergleichen. Er und seine Kumpels seien für zwei Stunden – »maximal zweieinhalb« – dort gewesen, hätten nur geguckt, nichts geworfen – und aus.
Lieber Unrecht als Unordnung
Auf der Wiese vor dem Sonnenblumenhaus, dort wo 1992 zuerst die Asylbewerber im Freien schliefen und später der Mob wütete, stehen inzwischen ein Baumarkt und ein kleines Stadtteilzentrum. Eisdiele, Friseur, Reisebüro, ein Stand mit frischen Erdbeeren, ein Asia-Imbiss.
Fragt man Anwohner nach dem Sonnenblumenhaus, weiß jeder sofort, warum man sich dafür interessiert: »Da hinten haben sie in die Büsche gepisst, die … Sinti und Roma muss man ja heute sagen«, erzählt einer. »Die Randalierer waren keine Rostocker«, beteuert ein anderer. »Das waren Neonazis aus Hamburg und West-Berlin«. Ein Dritter kratzt sich beschämt am Kopf: »Das war schlimm damals. Wir sind für ein paar Nächte ausgezogen und haben bei den Eltern meiner Frau gewohnt.« Die beiden in Brand gesteckten Blocks des Wohnhauses sind inzwischen renoviert und neu vermietet. Wenn man genau hinsieht, merkt man, dass sie ein wenig heller sind als die Abschnitte daneben, die nicht gebrannt haben. Die ZASt wurde – wie bundesweit im Grunde alle derartigen Unterkünfte und Sammelstellen – in ein abgeschiedenes Gebiet verlegt.
»Wenn die Deutschen die Wahl haben zwischen Unrecht und Unordnung – so entscheiden sie sich für das Unrecht«, zitiert Phuong Kollath einen Satz, den Wolfgang Richter in den Gerichtsverfahren mehrfach gesagt hatte. Die 43- jährige Vietnamesin hat selbst jahrelang in dem Hochhaus an der Mecklenburger Allee gewohnt, 1992 war sie jedoch bereits ausgezogen. »Ich hatte mit meinem damaligen Mann ein Saisonlokal auf einem Campingplatz in der Nähe«, erzählt sie und streicht sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. »Viele der Leute, die vor dem Haus randalierten, kamen später zum Übernachten dorthin. Die kauften sich bei uns Bier und prahlten mit ihren Heldentaten. Wie cool das wäre, das endlich mal was los sei. Wie geil sie die Polizisten gejagt hätten. Und dass sie gegen uns ›Fidschis‹ ja gar nichts hätten – nur ›die Zigeuner‹ müssten eben weg.« Es fällt schwer, sich eine sanftmütigere Person als Phuong Kollath vorzustellen, doch bei diesen Erinnerungen packt selbst sie der Zorn. Inzwischen leitet die zierliche Frau die vietnamesisch-deutsche Begegnungsstätte des Vereins »Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach«. Im Oktober 1992 gegründet, widmet sich der Verein seither dem Kampf gegen den Rassismus, versucht nicht nur Deutsche und Vietnamesen näher zusammenzubringen, sondern unterstützt alle Migranten: »Wir organisieren Stadtteilfeste, schicken Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten gemeinsam zum Klettern oder Bootfahren, veranstalten Projekttage in Schulen.« Phuong Kollath weiß, dass der Verein davon profitiert, dass damals nicht nur ganz Deutschland, sondern die ganze Welt nach Rostock blickte: »Wir haben es sicherlich einfacher als Vereine in anderen Städten, die etwas Ähnliches machen – und die viel härter um Fördergelder und Aufmerksamkeit kämpfen müssen.«
Ins Leben gerufen hat den Verein unmittelbar nach den Anschlägen Nguyen Do Thinh – einer der Vietnamesen, die beinahe im Sonnenblumenhaus verbrannt wären. Vor rund einem Jahr kehrte der 44-Jährige dann in seine vietnamesische Heimat zurück. Doch wenn man ihn fragt, sind die Bilder vom August 1992 immer noch höchst lebendig. »Um die Angst wirklich zu fühlen, hatte ich zu wenig Zeit. Ich hatte nur im Kopf, wie wir all diese Leute, die Frauen und Kinder in Sicherheit bringen könnten«, erinnert er sich. »Nur einmal spürte ich Angst: Wir waren in der siebten Etage, Rauch quoll von unten hoch, man konnte fast nichts erkennen. Die anderen suchten nach einem Ausweg aufs Dach, wir sicherten nach unten ab. Ich hatte einen Hammer in der Hand, sah unten im Rauch eine Person mit Glatze.
Zum Glück kam sie nicht höher, denn ich weiß nicht, was ich getan hätte. Erst später, als alles vorbei war und ich mein verrußtes Gesicht im Badezimmerspiegel nicht wiedererkannte, legte ich den Hammer weg und fragte mich: Was machst du hier eigentlich?« Heute ginge es ihm wieder gut, sagt er. Er versuche wieder so »fröhlich und unpolitisch« zu sein wie zuvor, aber das gelänge nicht immer. »Das Feuer, die feige, dumpfe Lust in den Gesichtern der Menschenmenge, ihre Überlegenheit zu demonstrieren – das alles ist nicht mehr aus meinem Kopf zu verbannen. Die Dämonen warten nur auf eine günstige Gelegenheit, dann sind sie wieder da.«
Zu viele Zufälle?
So offen wie Thinh spricht sonst niemand der vietnamesischen Hausbewohner über die Geschehnisse. »Das muss man vergessen«, sagen sie stattdessen und winken ab. »Was vorbei ist, ist vorbei – mit dem Leben heute hat das doch alles nichts mehr zu tun.« Letzteres stimmt nur zum Teil. Denn die pogromartigen Angriffe von Lichtenhagen wirken in Form des »Asylkompromisses« bis heute fort. Vor den Anschlägen hatten sich SPD, FDP und Grüne stets gegen die von der CDU/CSU geforderte Grundgesetzänderung gesträubt, die es schwieriger machen sollte, in der Bundesrepublik Asyl zu beantragen.
Danach änderten FDP und SPD ihre Haltung und ermöglichten die Zweidrittelmehrheit, die nötig war, um beispielsweise die sogenannte Drittstaatenregelung einzuführen: Wer aus einem sicheren Drittstaat einreist, zu denen sämtliche Anrainerstaaten der BRD gehören, kann kein Asyl mehr beantragen, sondern wird sofort zurückgeschickt. 1992 betrug die Anzahl der Asylanträge 438 191. Im vergangenen Jahr konnten noch 21 029 Menschen einen Antrag stellen, 251 Mal wurde 2006 das Asylrecht nach Artikel 16a gewährt.
Einige Beobachter vermuten, dass es kein Zufall war, dass die Situation vor dem Sonnenblumenhaus über mehrere Tage immer weiter eskalieren konnte. Dass es kein Zufall war, dass in Rostock stationierte Wasserwerfer einige Tage zuvor ohne ersichtlichen Grund nach Schwerin verlegt worden waren und somit nicht schnell genug zur Verfügung standen. Dass es kein Zufall war, dass die Feuerwehr zunächst keinen Polizeischutz bekam, als sie versuchte, das brennende Haus zu löschen.
Beweise für eine Anweisung, die Situation eskalieren zu lassen, gibt es keine. Ein Beigeschmack bleibt dennoch. So berichtet beispielsweise Wolfgang Richter, dass sich die Polizei zwar schwer damit tat, den angereisten Neonazis Ein halt zu gebieten, eine kleine Gruppe linker Gegendemonstranten aber relativ zügig verhaftet wurde, als man in einigen ihrer Autos Waffen oder waffenähnliche Gegenstände fand. Trotzdem will er nicht an eine groß angelegte Verschwörung glauben: »Es ist keine Frage, dass die Vorfälle denen, die für eine Verschärfung des Asylrechts plädierten, sehr gelegen kamen«, sagt er. »Aber ich habe da – nach Gespräche mit den Verantwortlichen der Stadt und auch mit dem damaligen Innenminister Kupfer geführt – das waren keine Strippenzieher mit kaltem Kalkül. Es wären auch zu viele Mitwisser nötig gewesen, als dass es hätte geheim bleiben können.« Richter arbeitet nach wie vor als Ausländerbeauftragter der Stadt Rostock, von seinem Büro kann man durch eine große Glastür direkt auf den Marktplatz treten, er schottet sich nicht ab. Das Graffito »Ob das Schwein Wolfgang Richter noch lebt?« am S-Bahnhof Lichtenhagen ist mittlerweile verschwunden.
Die verbrannte Jogginghose
Es gibt viele Bilder, die sich aus den Schreckensnächten in Rostock-Lichtenhagen in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben und auch nach 15 Jahren noch abrufbar sind: Brandbomben, die in einem riesigen Feuerball an der Hauswand explodieren. Hilflos zusehende Polizeitruppen mit Ellbogen- und Knieschonern, die sie sich in Sportgeschäften selbst gekauft hatten. Hassverzerrte Gesichter, deren Münder »Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!« skandieren. Das bekannteste Bild jedoch zeigt einen Mann namens Harald Ewert. Auch wenn sein Name kaum jemandem etwas sagt – sein Foto mit der vollgepinkelten Jogginghose, dem Deutschlandtrikot und dem zum Hitlergruß erhobenen Arm kennt die ganze Welt. Der Mann mit Schnauzbart und Bierbauch wurde zum Posterboy des »neuen hässlichen Deutschland «, das seine Fratze Anfang der Neunziger nicht nur in Lichtenhagen, sondern auch in Hoyerswerda, Mölln und Solingen zeigte. Dabei sei der Fleck nur verkipptes Bier gewesen, versicherte Ewert in den folgenden Jahren immer wieder. Hätte er doch nur die graue Jogginghose damals vor Wut nicht verbrannt. Er hätte es allen beweisen können. In seiner Einzimmerwohnung im nahe gelegenen Stadtteil Reutershagen hatte er 1992 die Fernsehbilder gesehen. Also ab ins Auto, »Schlüssel rum« und hin zu den Plattenbauten in Lichtenhagen, die er als Baumaschinist selbst mit hochgezogen hatte, bevor er seine Arbeit verlor. Für den Hitlergruß bekam er später eine kleine Strafe, an viel aus dieser Nacht erinnerte er sich später ohnehin nicht: »Das ging alles automatisch – ich war blau.« Noch mehr als die Frage nach dem Fleck auf der Hose trieb es ihn jedoch um, wenn jemand behauptete, er habe seinen Führerschein verloren.
Denn das stimme überhaupt nicht, er dürfe sogar Gabelstapler fahren, stellte er zornig klar. So wie Harald Ewert Zaungast bei den Krawallen vor dem Sonnenblumenhaus war, blieb er sein ganzes Leben eher Randfigur. Wer heute zu dem Haus in Reutershagen geht, in dem er über 15 Jahre gewohnt hat, findet niemanden mehr, der ihn kennt. Nur die Hausverwaltung weiß, dass einer der bekanntesten Rostocker der Welt vor etwa einem Jahr verstorben ist. Seine Wohnung ist wieder neu vermietet, das Klingelschild aus getauscht – angefertigt in exakt der gleichen Farbe und Schriftart wie die rund 80 anderen im Treppenaufgang. Alles hat hier inzwischen seine Ordnung.
15 Jahre nach den Anschlägen von Rostock- Lichtenhagen erscheinen die Vorfälle wie ein kollektiver böser Traum. Und alle Beteiligten – Politiker, Täter, Opfer, – würden ihn am liebsten aus ihrem Gedächtnis löschen. »Heute wäre so etwas nicht mehr möglich«, lautet die Standardantwort auf die Frage nach der Gefahr einer Wiederholung. Dennoch: Als in der Nacht zum 19. August dieses Jahres nach einem Altstadtfest im sächsischen Mügeln ein Mob von mehreren Dutzend Menschen acht Inder durch die Kleinstadt jagt und dabei zum Teil schwer verletzt, klingt vieles seltsam vertraut: die Diskussionen, ob es sich bei den überwiegend jungen Tätern überhaupt um Einheimische handelte. Die gerufenen Parolen wie »Ausländer raus« und »Hier regiert der nationale Widerstand «. Die dennoch schnell vorgetragenen Beteuerungen, dies sei nicht unbedingt ein Anhaltspunkt für ein rassistisches Motiv. Die Angst der Stadtväter, ihr Ort könnte nun ein negatives Image bekommen – dabei gäbe es solche Übergriffe doch auch anderswo. Wie in Rostock wollen auch in Mügeln alle im Grunde nur eines: so schnell wie möglich vergessen.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: NEON
Fotos: Julian Roeder / Ostkreuz