Ein Kinofilm, Wiederveröffentlichungen und dutzende Epigonen – 30 Jahre nach ihrer Gründung ist die Band Joy Division präsenter als je zuvor
Der Morgen des 18. Mai 1980 dämmert, über den grauen Reihenhäusern des nordenglischen Macclesfield geht die Sonne auf. Auf dem Plattenteller von Ian Curtis liegt Iggy Pops Platte „The Idiot“. Der blasse 23-Jährige hat sich gerade Werner Herzogs Film „Stroszek“ angesehen, morgen soll er mit seiner Band Joy Division auf eine USA-Tournee gehen, die der Band den Durchbruch bringen könnte. Doch anstatt seinen Koffer zu packen, geht er in die Küche und hängt sich auf.
Nun zeichnet – rund 30 Jahre nach Gründung der Band – der Film „Control“ den Weg des lebensmüden Sängers nach. Und wird damit vielleicht den endgültigen Hype um eine Band einleiten, die im Grunde nie wirklich verschwunden, sondern stets auf unnachahmliche Weise präsent war. Doch woran liegt es, dass eine Band mit einem derart überschaubaren Werk, das so lange zurückliegt, heute immer noch fortwirkt? Dass ihre Lieder in Clubs laufen, die sich sonst aktueller Musik widmen? Dass man im Nachtleben immer noch Menschen sieht, die die stilisierte Hügelkette des „Unknown Pleasures“-Covers auf dem T-Shirt tragen?
Die kühle, minimalistische und unfassbar aseptische Musik von Joy Division entzieht sich zeitlichen Einordnungen. Egal, ob bei ihrer Entstehung, zehn Jahre später in einer ländlichen Wavedisco oder neulich im Kreuzberger Club Monarch: Lieder wie „She’s Lost Control“ klingen stets vergangen, gegenwärtig und zukunftsweisend zugleich. „Unsere Ausrüstung war so schlecht, dass ich nie hörte, was Ian sang oder was Bernard auf der Gitarre spielte“, erinnert sich Bassist Peter Hook an die Aufnahmen zum ersten Album der Band. „Als ich es dann hörte, war es eine Offenbarung. ,Unknown Pleasures’ ist absolut zeitlos. Keiner von uns weiß, wie wir es hinbekommen haben.“
Inzwischen haben sich Bands wie Interpol und Editors, die bei ihrem Auftauchen vor einigen Jahren als schamlose Joy-Division-Epigonen kritisiert wurden, etabliert und gelten selbst als Referenzmarke für neugegründete Bands. Wie beispielsweise für die junge Hamburger Band Museum, die behauptet, von jeder deutschen Plattenfirma abgelehnt worden zu sein. Trotzdem gehört sie mit über 20.000 Hörern zu den populärsten Gruppen auf der Internet-Musikplattform last.fm ohne einen Plattenvertrag und belegte dort eine Zeitlang Platz Eins der Download-Charts. Ob sie nun bei Joy Division klauen oder bei deren Nachahmern wie Interpol – das ist wohl letztlich nur noch eine Frage des Standpunkts oderdes eigenen Geburtsjahres.
Kritische Stimmen behaupten, ohne den wirkungsmächtigen Selbstmord würde sich drei Jahrzehnte später niemand mehr für Joy Division interessieren. Jens Friebe, Berliner Indiepopstar der Gegenwart, lässt solche Argumente nicht gelten: „Die Antwort darauf ist die Joy-Division-Nachfolgeband New Order. Selbst ohne Curtis und sein düsteres Charisma blieb eine Hit-Großmacht mit unbeflecktem Ruf übrig“, sagt der Sänger im Interview. „Das hätte mit Curtis wohl erst recht geklappt.“
Als sich Ian Curtis das Leben nahm, hatte er bereits eine Tochter in die Welt gesetzt. Natalie Curtis ist inzwischen 28 Jahre alt und arbeitet als Fotografin in Manchester. Sie erklärt sich die starke Nachwirkung der Musik ihres Vaters so: „Als ich das erste Mal das Album ,Closer’ hörte, dachte ich, es sei ganz normale Musik. Ich ging einfach davon aus, dass jede Musik auf diesem Niveau vonKlasse stattfand. Als ich älter wurde, war es ein Schock, zu entdecken, dass nicht alles so außergewöhnlich war.“
Außergewöhnlich war neben der eindringlichen Musik die stets perfekte Optik der Band: die grobkörnige Schwarzweiß-Fotografie des damals noch unbekannten Anton Corbijn, die brillanten Plattencover des Grafik-Designers Peter Saville. Joy Division war eine der ersten Bands mit einer komplett stimmigen Corporate Identity, einem Look, einer präzisen Ästhetik. So berichten beispielsweise viele Menschen, dass sie, bevor sie den ersten Ton von Joy Division hörten, deren Cover-Artwork lange kannten – die Totenwache von „Closer“ oder die gezackten Linien von „Unknown Pleasures“. Die optische Ausgestaltung zeugt von zeitloser Schönheit – wie nicht zuletzt die drei als „Collector’s Edition“ soeben wiederveröffentlichen Joy-Division-Alben beweisen, die zwar neu gemastert und um jeweils eine Live-Aufnahme aus der jeweiligen Zeit angereichert wurden, jedoch im gleichen Look erscheinen wie bei ihrer Erstveröffentlichung.
Steht uns ein endgültiger Ausbruch der schon seit langem schwelenden Joy-Division-Verehrung bevor? Ein „Revival“ gar, um dieses grausame Wort zu benutzen, mit dem sonst das Wiederaufkochen vergessener Mode-, Musik- und anderer Trends bezeichnet wird? „Ich glaube, die Kanonisierung der Manchester-Szene hat gerade erst begonnen“, sagte Peter Saville kürzlich im Interview. „Für mich ist es die letzte wahre Geschichte des Pop. Und sie beginnt damit, dass Ian Curtis ,Love Will Tear Us Apart’ schreibt.“
Eine Allgegenwart von Ian Curtis und Joy Division bahnt sich an, zumindest im Feuilleton, denn neben dem Film „Control“ und den erwähnten Sammlereditionen erscheinen dieser Tage mehrere Fotobände und Biografien. Jenseits der Verkaufsregale bei Dussmann sind Joy Division über 25 Jahre nach ihrem Ende präsenter als je zuvor. Egal, in welchem musikalischen Genre man sich derzeit umsieht, man stößt unweigerlich auf ihre Spuren: Die Volldampf-Indierocker The Wombats feiern mit ihrer Single „Let’s Dance to Joy Division“ Erfolge, der Alternative-Country-Geheimtipp Iron & Wine outet sich als „großer Joy Division Fan“ und beim Berliner Indie-Trio Decades, das gerade ihr zweites Album veröffentlicht hat, reicht die Verehrung so weit, dass man sich gleich nach einem Joy-Division-Album benannte. Die Las-Vegas-Glamrocker The Killers covern „Shadowplay“ für den Soundtrack zu Corbijns Biopic „Control“, eine Verbeugung vor der Kultband.
Selbst der Londoner Dubstep-Produzent Burial, der gerade sein zweites Album vorlegte, wird mangels Alternativen mit dem 1991 früh verstorbenen Joy-Division-Produzenten Martin Hannett verglichen. Dieser hatte sich damals für den kalten, verhallten Sound der Alben „Unknown Pleasures“ und „Closer“ Kniffe aus der Trickkiste der Dub-Zauberer wie Lee „Scratch“ Perry geholt: Echo auf Echo auf Echo zu stapeln und Geräusche wie Glasklirren, gekaute Cornflakes oder das Rattern eines Fahrstuhls zu harten, präzisen Rhythmusspuren umzubauen. Eine Legende – und davon gibt es im Orbit von Joy Division unzählige – besagt, dass der Produzent im Winter die Studioheizung abstellen ließ, um die Atmosphäre noch kälter und trostloser zu machen, als sie es im Manchester der späten 70er Jahre wohl ohnehin schon war.
Wenn man 2007 durch Berliner Kneipen und Bars zog, war es zwar auch manchmalkalt und trostlos, aber zu hören bekam man eine andere Band aus dem Manchester der 80er: Ob im „Keyser Soze“ in Mitte, im „Wohnzimmer“ in Prenzlauer Berg oder im „Kirk“ in Kreuzberg – überall liefen „Hatful of Hollow“ oder „The Queen is Dead“, die Früh-80er-Alben der Smiths. Meist nicht nur liedweise, sondern komplett von vorne bis hinten, den ganzen Abend lang. Es würde nicht im Mindesten überraschen, würden sie 2008 abgelöst von den düstereren Gesängen eines Ian Curtis.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: zitty
Fotos: Verleih
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