Wer früher etwas auf sich hielt, fand Verkleidungspartys uncool. Jetzt entdecken Partyveranstalter, Plattenlabels und Clubs den Charme der Verkleidung. Und in der Tat: Die Pappnase hat ihr Comeback verdient.
»Was für eine Party!« Tobi trippelt aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Es gab eine Rutsche aus Eis und den besten Wodka Cranberry, den ich je getrunken habe.« Ich sehe ihn skeptisch an. »Aber das Allerbeste waren die Kostüme. Da waren fast alle verkleidet. Ein Typ ist in einem Ganzkörperhasenkostüm rumgerannt. Dabei war gar nicht Karneval.« Früher hätte ich ihm vermutlich das Wort abgeschnitten und einen Vortrag darüber gehalten, warum Verkleidungen – egal ob zur Faschingszeit oder zu jeder anderen Zeit im Jahr – total uncool sind.
Dass nur langweilige Menschen Perücken und schillernde Gewänder nötig haben, um ihre triste Existenz vergessen und einmal im Jahr ausgelassen feiern zu können. Aber früher dachte ich ja auch, Nudeln mit Ketchup wären ein wohlschmeckendes Mahl und eine Lavalampe ein lässiger Einrichtungsgegenstand.
Heute weiß ich, dass Verkleidungen auch jenseits klassischer Termine wie Karneval oder Halloween jeder Party guttun. Die Gründe dafür sind zahlreich. Maskierungen sind ein simples Vehikel, unsere anerzogenen Hemmungen und Bedenken fallen zu lassen.
Dabei geht es gar nicht unbedingt um Sexorgien wie in »Eyes Wide Shut«, mit Menschen, deren Gesichter man nicht erkennt. Auch ein Kostüm, in dem wir als wir selbst erkennbar sind, macht es uns einfacher, aus unserem Alltags-Ich herauszutreten, ein wenig durchzudrehen. Wer sich kostümiert, verhält sich automatisch dem neuen Outfit angemessen: Der Cowboy geht ein wenig lässiger, die Prinzessin bewegt sich ein wenig eleganter, der Pirat fährt sich nach einem tiefen Schluck aus dem Glas genüsslich mit dem Handrücken über den Mund, bevor er seinen Säbel wieder zwischen die Zähne klemmt und sich ins Getümmel stürzt. Sich verkleiden bedeutet, sich zu seiner Wirkung auf andere zu bekennen – zuzugeben, dass man sich herausgeputzt hat, statt wie sonst eine Stunde damit zu verbringen, möglichst ungestylt auszusehen.
Das ist noch nicht alles. Verkleidungen wirken – ähnlich wie Schuluniformen – als soziale Gleichmacher. Es ist plötzlich egal, wer genug Geld für einen Anzug von Hedi Slimane oder ein Kleid von Diane von Fürstenberg hat und wer sich nur den entsprechenden Nachbau von H & M leisten kann. Selbst auf den vermeintlich lockersten Partys gibt es einen ungeschriebenen Dresscode, und man wird, zumindest von Unbekannten, danach beurteilt, was man trägt. Wer das nicht wahrhaben will, macht sich selbst etwas vor – und sollte vielleicht einmal in einer schlecht geschnittenen Aldi-Jeans und in einem (nicht ironisch codierten) T-Shirt vom letzten Sparkassen-Volkslauf in seinen Lieblingsclub gehen. Wenn alle verkleidet sind, geht es mit einem Mal nicht mehr um Einkommen, Status oder Insiderwissen in Sachen Modelabels.
Es gibt keinen Anlass mehr, darüber zu philosophieren, ob Röhrenjeans dieses Jahr noch tragbar sind oder schon wieder. Es geht um Einfallsreichtum, um die Mühe, die sich jemand mit seinem Outfit gemacht hat, und die Ideen, die er hat. Und oft genug auch ein wenig um Mut. Den Mut, sich lächerlich zu machen, sich auch mal unvorteilhaft zu kleiden – oder sich einen riesigen Schildkrötenpanzer auf den Rücken zu schnallen, wenn es das Kostüm erfordert.
Zu den besten Partys, auf denen ich war, gehören überraschend viele Kostümpartys, oft genug mit einem bestimmten Motto, dem zu folgen war. Toga- oder »Dress to get screwed«- Partys an amerikanischen Unis, bei denen nach einer harten Woche alle Hemmungen fallen gelassen wurden. Geburtstagspartys, auf denen alle Gäste in Weiß oder Rosa zu erscheinen hatten, und einem schon beim Betreten des Raumes ein Gefühl des Besonderen, Unvergleichlichen überkam. Oder Partys, auf denen sich jeder als Superheld verkleiden musste – und das Spektrum schließlich vom Melittamann-Man über Lara Croft bis zu einem gelb angemalten Homer Simpson mit ebenso gelben Spülhandschuhen reichte. Auf der Party einer Freundin, bei der jeder als das kommen sollte, was er als Kind gerne werden wollte, wurde noch ein anderer Effekt solcher Verkleidungen deutlich: Mit einem einzigen Blick erfuhr man etwas Privates über die anderen Anwesenden. Der eine ging als Indianer, ein anderer als Fußballprofi, manche kamen als Krankenschwester oder als Astronautin. Ganz egal, wie das Motto einer Kostümparty letztlich lautet, man findet sich niemals in der unschönen Situation wieder, mit fremden Menschen auf einem fremden Balkon zu stehen und Small Talk über das Rauchen machen zu müssen. Denn selbst ein »Was zur Hölle soll das denn darstellen – einen außerirdischen Schornsteinfeger? « ist ein besserer Eisbrecher als das hundertste Lamento »Ich wollte ja eigentlich schon so oft aufhören, aber wenn ich ein Bier trinke, gehört so eine Kippe einfach dazu«.
Dass Verkleidungen längst nicht mehr Schutzmantel und Freibrief für verklemmte Seelen, sondern vielmehr Bereicherung für jede Party sind, hat auch das über alle Stilzweifel erhabene französische Dance-Label Ed Banger erkannt. Die vom Daft-Punk-Manager Pedro Winter gegründete Plattenfirma, bei der unter anderem so umjubelte Elektronik-Acts wie Justice und Uffie zu Hause sind, feiert regelmäßig in Verkleidung; bei der »Respect Carnaval Boat Party« letzten Sommer in Paris kam ohne Verkleidung niemand an Bord. Eine Top-Ten-Liste der besten Kostüme aller Zeiten könnte man locker aus den an Bord des Partyschiffes getragenen Verkleidungen bestücken:
- Lederjackenrocker mit Zahnlücke und Riesentolle
- wandelnde McDonald’s-Pommespackung
- Jesus Christus mit Dornenkrone
- Beastie Boys mit weißen Reinraumanzügen und Bauhelmen
- sexsüchtiger Pandabär
- Darth Vader in Badehose
- Teenage Mutant Hero Turtle
- Michael Jackson in der Billie-Jean-Phase
- Alex & eine Gruppe Clockwork-Orange-Droogs
- Duschfee mit Handtuchturban
Die eigentliche Hauptstadt des fröhlichen Mummenschanzes ist jedoch London: Neben Partyreihen wie »Antisocial« oder »All You Can Eat« haben vor allem die »Boombox«-Partys mit ihren New-Rave-Knallfarben und anderen optischen Extravaganzen nicht nur die Musikund Partyszene geprägt, sondern auch die Modewelt beeinflusst: Designer wie Henry Holland oder John Galliano ließen sich dort vor der einstweiligen Schließung zum Neujahrstag 2008 regelmäßig beim Feiern inspirieren.
In Deutschland gibt es ebenfalls gute Beispiele für Partyreihen, die auf den stimulierenden Effekt von Verkleidungen setzen: Für den »Salon zur Wilden Renate« bastelten fünf Leute aus einem Abrisshaus in Berlin-Friedrichshain eine Partylocation. Im »Bootshaus« in Köln findet unter dem Titel »Loonyland« ungefähr monatlich ein Stelldichein hingebungsvoll gestalteter Kostüme und Partyverkleidungen statt. Und wer es gerne riesig, laut und einfarbig mag, kann zu den aus Holland importierten »Sensation White«-Partys gehen. Dort ist, der Name legt es nahe, Weiß der verpflichtend vorgeschriebene Dresscode, zuletzt feierten die weiß gekleideten Ravemassen in der LTUArena in Düsseldorf gemeinsam Silvester.
Vielleicht versteht man den Zauber, der einer Party mit verkleideten Gästen beinahe automatisch innewohnt, am besten, wenn man sich den genauen Gegenpol ansieht: den Jackengast. Der Jackengast heißt so, weil er den ganzen Abend seine Jacke anbehält. Egal, ob er für mehrere Stunden auf der Party bleibt, oder der Club, in dem er sich aufhält, einer Sauna gleicht.
Gelangweilt steht er am Rand der Tanzfläche, eine Bierflasche in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. Nach stundenlangem Stehen und Starren beschließt er, dass hier »echt nix los« sei und geht in die Nacht hinaus. Die Jacke hat er ja schon an – beziehungsweise immer noch. Der Jackengast ist die Antithese zur mühe- und liebevollen Verkleidung, denn er sieht beim Ausgehen kein bisschen anders aus, als wenn er zum Brötchenholen geht. Der Jackengast ist immer auf dem Sprung, eine Hand immer am Mobiltelefon, um SMS zu schreiben und zu checken, wo er vielleicht nach her noch hingehen könnte. Wo er sich schluss endlich genauso langweilt. Dabei ist er es selbst, der die Party bremst. Denn Verkleidungen machen eine Party nicht nur freudiger, exzessiver und erinnerungswürdiger – sie schweißen die Gäste auch zusammen. Wer als Zweimetermann in einem winzigen »Zicke«- Mädchentop zur Mottoparty »Der fröhliche Crossdresser« geht, haut nicht aus einer Laune heraus nach einer Stunde wieder ab, um sich in seiner Stammkneipe an den Tresen zu setzen und Fußball zu gucken. Wer sich verkleidet, bringt automatisch ein Maß an Entschlossenheit und Engagement mit, das im immer unverbindlicheren Nachtleben, in dem sich jeder per Mail auf vier verschiedene Gästelisten setzen lässt, selten geworden ist.
Die Feierverkleidung hat ihr Image irgendwo zwischen keckem Partyhütchen und schwitziger Betriebsfeier nicht verdient – egal, ob zu Karneval oder an einem beliebigen Wochenende.
Erobern wir die Pappnase zurück! Lasst uns Luftschlangen und Konfetti werfen statt Pillen und böser Blicke! Ich habe Tobi jedenfalls versprochen, mit ihm zur nächsten Party zu gehen, die seine Augen noch Tage später beim Erzählen zum Leuchten bringen wird.
Vielleicht sehen wir uns ja. Ich bin der Typ mit dem Wookie-Kostüm, den Taucherflossen und dem spitzenbesetzten Sonnenschirm.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: NEON