Die Lust am Risiko: Warum wir uns auch im Erwachsenenalter nicht zu schade sein sollten, zu spielen

Written by on 17/06/2008 in Wollt grad sagen with 0 Comments

„Kommst du raus zum spielen?“ Jeder erinnert sich an diesen Ruf, der in unserer Kindheit durchs Fenster hereindrang und uns im Handumdrehen von den Hausaufgaben wegholte – nach draußen in die aufregendere Welt des Spiels. Egal, ob es hart umkämpfte Fußballpartien waren, „Räuber und Gendarm“ oder das Errichten möglichst großer Sandburgen – der Nachmittag verging im Flug und als der Abend hereinbrach, waren wir außer Atem und glücklich. Dabei hatten wir doch „nur gespielt“.

Wann genau auf dem langen Weg zum Erwachsenwerden ging uns eigentlich die Leichtigkeit des Spiels verloren? Warum erlauben wir uns nur noch so selten, uns die Zeit mit Spielen zu vertreiben? Liegt es daran, dass Spielen schon per Definition keinen Nutzwert, keine praktische Zielsetzung haben darf, weil es sonst eben ganz schnell kein Spaß mehr ist, sondern Training oder Übung? Fest steht, dass die meisten Menschen – eingeklemmt in einen straffen Terminplan mit Jobs, Arztbesuchen, Erledigungen und anderen „ernsthaften“ Aufgaben – seltener Zeit für denn herrlich zweckfreien Müßiggang des Spiels haben, als sie sich wünschen. Und seltener als gut für ihr Wohlbefinden wäre.

Denn zu spielen ermöglicht es uns, in der unmittelbaren Gegenwart zu leben und diese auszukosten – anstatt uns wehmütig an die Vergangenheit zu erinnern oder uns über die Zukunft zu sorgen. Durch dieses Leben im hier und jetzt und die Konzentration auf den Moment, entstehen – ähnlich wie auf Urlaubsreisen und beim Sex – die größten Glücksgefühle. Oder wie Friedrich Schiller es formulierte: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Der vage Begriff „Spieltrieb“ gibt uns nur eine Ahnung davon, was genau uns mehr Lust und Freude empfinden lässt, wenn wir spielen, als wenn wir beispielsweise den Abwasch machen oder unsere Steuererklärung fertigstellen. Psychologen haben eine Reihe von Antriebskräften festgestellt, die uns zum Spielen verleiten: Da ist zum einen der Bewegungsdrang, den vor allem Menschen mit Bürojobs viel zu selten ausleben können. Angefangen vom einfachsten aller Flugsimulatoren (Papa nahm uns an einem Kinderarm und einem -bein und ließ uns im Kreis um sich herumsausen) bis zum rettenden Hecht hinter eine schützende Mauer bei Gotcha-Spielen: Bewegung und die dabei ausgeschütteten Adrenalin und Endorphin-Mengen, die durch unseren Körper rauschen, machen das Spielen so aufregend. Ein Rennen auf der Go-Cart-Bahn, eine rotwangige Schneeballschlacht, ein gewonnenes Duell unter dem Basketballkorb gefolgt von einem krachenden Slamdunk – das sind die Glücksmomente, in denen unser Puls steigt, der Atem fliegt und wir uns hinterher fragen, warum wir so etwas eigentlich nicht viel öfter machen. Der Biopsychologe Peter Walschburger von der FU Berlin erklärt: „Was in solchen Situationen, in denen wir ganz versunken sind, mit uns passiert, nennen die Experten ,Flow-Erlebnisse’ – wenn sie zum Beispiel auf einem Surfbrett an einem guten Tag mit kräftigen Wind über das Wasser gleiten und so begeistert sind, dass sie plötzlich jemanden laut juchzen hören – und dann erst merken, dass sie das selbst sind.“

Doch Bewegung könnten wir uns schließlich auch beim Spazierengehen oder auf dem Laufband eines Fitnessstudios holen. Spielen ist also mehr: Es schenkt uns das Gefühl von Freiheit, weil es entweder gar nichts mit unseren täglichen Pflichten zu tun hat (Kartenspiele, Flippern, Tischtennis) oder unseren Alltag auf unernste, eben spielerische Weise nachahmt (Geld verdienen bei Monopoly oder zahlreichen Wirtschaftssimulationen am Computer). Es weckt unsere Neugierde, lässt uns überschwänglich jubeln oder fluchen wie ein Bierkutscher – je nachdem wie das mit Spannung erwartete Ergebnis ausfällt. Denn auch in eben dieser Ungewissheit, wie das Spiel ausgehen wird, liegt einer seiner großen Reize. Das wusste schon der Psychologe Karl Groos, der in seinem Werk „Die Spiele des Menschen“ 1899 schrieb: „Ein Hauptvergnügen liegt in der Spannung der Erwartung und dem plötzlichen Hervorbrechen der Entscheidung.“ Und natürlich versteht es sich beinahe von selbst, dass wir stets entweder verdient und absolut zu Recht gewinnen – oder falls wir verlieren sollten, nur ein dummer Zufall, unfähige Mitspieler oder schummelnde Gegner daran Schuld sein können.

Urlaub vom Alltag, Urlaub vom Ich

Am schönsten und erfrischendsten sind Spiele meist dann, wenn sie uns erlauben, in eine Rolle zu schlüpfen, die mit unserem gewöhnlichen Leben nichts zu tun hat. Wenn sie uns eine fiktive Scheinwelt aufbauen lassen, in der wir sein können, was immer wir in diesem Moment gerne wollen. Egal ob als Feldherr im Brettspielklassiker „Risiko“ oder als kämpfende Nachtelfe im Online-Rollenspiel „World of Warcraft“ – das Eintauchen in das Spiel, das Verschmelzen mit der Plastikspielfigur oder dem Computercharakter geben dem Spielen eine wichtige neue Dimension. Nicht unser kleines grünes Steinchen startet einen Eroberungsfeldzug – WIR greifen unseren Mitspieler an. Nicht die drei Symbolkarten, die auf dem Tisch liegen bilden aufgrund des Regelwerks eine wichtige Handelsverbindung – WIR haben diesen Seeweg erkundet. Und zwar noch vor unseren Konkurrenten. Ätsch.

Spielenkönnen – und hier liegt ein Problem für viele Erwachsene, die sich albern fühlen, wenn sie mir roten Ohren einen Würfel schmeißen – bedeutet, sich einlassen zu können. Sich einlassen auf eine unwirkliche Welt. In dieser Welt können schmächtige Zeitgenossen mit ein paar Bewegungen am Controller ihrer Playstation zum breitschultrigen Football-Quarterback werden. Üppig behaarte Schwergewichte können auf einen Rollenspiel-Server als sommersprossiges Zwergenmädchen mit pinken Zöpfen durch die Wälder laufen und Drachen verhauen, wenn ihnen danach ist. Und Mädchen, die gerne damit kokettieren, nicht mit Geld umgehen zu können, wurden schon dabei gesehen, wie sie bei „Monopoly“ ihre männlichen Mitspieler ausnahmen wie Weihnachtsgänse und Osterhasen zusammen. Spieleentwickler Klaus Teuber, der unter anderem hinter „Barbarossa“ und „Siedler von Catan“ steckt, ist fasziniert von der Verwandlung, die Menschen bei Spielen durchmachen: „Was mich am Spielen begeistert, ist das Abschalten vom Alltag und die Möglichkeit, Fehler machen zu dürfen, ohne dass sich diese gleich auf Jahrzehnte rächen. Welchen Effekt ich auch liebe: seine Mitmenschen und Bekannten einmal ganz anders erleben zu dürfen. Ich erinnere mich noch gut an ein absolut politisch korrektes Pärchen, wo der Mann im Spiel zum Egomanen mutierte. ,So kenne ich dich ja gar nicht, wie spielst du denn?’ – ich höre noch heute die enttäuschte Stimme der Frau in meinem Ohr.“

Wenn wir spielen, müssen wir uns jedoch auch noch auf etwas anderes einlassen: auf das Risiko zu verlieren. So gut wie jedes Spiel unterscheidet am Ende zwischen Sieger und Verlierern oder gibt – selbst wenn wir alleine spielen wie bei einer klassischen Patience oder dem Spielehit „The Sims“ – Spielziele vor, an denen wir scheitern können oder sie erreichen. Manchmal ist es reines Glück, das über den Ausgang des Spiels entscheidet, manchmal Können, Geschicklichkeit, Anstrengung oder Erfahrung – meist eine Mischung aus alldem. Und dennoch, egal wie routiniert wir in einem Spiel sind, wir müssen immer damit rechnen, zu verlieren – im schlimmsten Fall gegen einen blutigen Anfänger. Doch genau darin liegt auch der Reiz. Natürlich wollen wir uns auch im Spiel mit anderen messen, das macht einen Großteil des Reizes aus. Aber wir treten dabei auch immer gegen uns selbst an“, sagt Biopsychologe Walschburger – selber ein begeisterter Tennisspieler. „Wenn ich gegen einen Spieler verliere, der einfach deutlich besser ist als ich, und ich dabei mein Bestes gegeben habe – dann kann ich unter Umständen trotzdem glücklicher vom Platz gehen, als nach einem haushohen Sieg über einen schwachen Gegner.“

Der vielleicht wichtigste Gedanke zum Thema Spielen jedoch, soll jedoch am Ende dieses Textes verraten werden … Moment, draußen vor dem Fenster des Autors ruft jemand. Ob ich runterkomme zum Spielen? Hm, ich würde ja gerne. Aber ich muss noch diesen Artikel zu Ende … Ach, was soll’s? Klar, ich bin sofort unten!

Text: Christoph Koch
Erschienen in: Mazda Motion

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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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