Fürs neue Jahr werden immer wieder gute Vorsätze gefasst. Wie wär’s denn mal mit dem: Ich treffe mich nur noch mit Leuten, die mir wirklich wichtig sind!
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber wir müssen reden.“ Nein, so geht es auf gar keinen Fall. „Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht, auch über uns beide.“ Oh Gott, das klingt ja wie in einem schlechten Film! Vielleicht besser ganz sachlich? „Es ist nicht mehr so wie früher. Wir sollten uns nicht mehr sehen.“ Irgendwie geht das auch nicht. Aber wie denn dann?
Wer denkt, eine Liebesbeziehung zu beenden sei schwierig, möge bitte einmal versuchen, eine langjährige Freundschaft aufzulösen. Denn einen Liebhaber oder eine Geliebte abzuservieren, ist ein Picknick im Park – verglichen mit der Aufgabe, den Stecker aus einer Freundschaft zu ziehen.
Fast jeder stand schon vor diesem Problem: Man kennt den anderen lange, hat viel miteinander durchgemacht, gute Zeiten erlebt. Aber jetzt fühlen sich die Anrufe des alten Freundes wie eine Wurzelkanalbehandlung beim Zahnarzt an. Und die Verpflichtung, sich mal wieder zu melden, belastet wie der wachsende Berg Altpapier, der längst hätte weggebracht werden müssen, oder wie der seit Wochen überfällige Brief ans Finanzamt. Trotzdem: Eine klare Aussprache erscheint grauenvoll. Müsste man sich entscheiden, würde man in der Regel lieber das Land verlassen, als dem anderen offen zu erklären, dass und warum man keine Lust mehr hat, gemeinsam Zeit zu verbringen. Warum bloß fällt es so schwer, sich einzugestehen und auszusprechen, dass eine Freundschaft ihr Verfallsdatum überschritten hat?
Anders als in einer Liebesbeziehung gibt es in einer Freundschaft „kein Exklusivitätsversprechen, keine gegenseitigen Verpflichtungen, keine festen Regeln – und deshalb scheinbar auch keinen Grund, Schluss zu machen“, sagt die amerikanische Soziologin Lillian Rubin, die an der Universität von Kalifornien in Berkeley tätig ist und ein Buch über Freundschaften und die Rolle, die sie in unserem Leben spielen, geschrieben hat.
Während man bei einer Partnerschaft klar bestimmen kann, wann sie einst begann – zum Beispiel mit dem ersten Kuss, dem ersten Sex, dem ersten „Ich liebe dich“ – entwickeln sich Freundschaften schleichender, lautloser. Und ähnlich gehen sie dann auch auseinander. Nicht mit einem großen Krach und tiefen emotionalen Wunden, sondern klammheimlich: Man lernt andere Menschen kennen, findet neue Interessen. Weil eindeutige Regeln fehlen, können sich Freunde eben auch kaum den Bruch von Regeln vorwerfen – von drastischem, aber eher seltenem Fehlverhalten wie Partnerausspannen oder Autoschrotten einmal abgesehen. Manchmal wünscht man sich sogar, dass etwas Dramatisches vorfällt. Dann wäre das Schlussmachen nämlich sehr viel leichter.
Ein anderer Grund, warum man Freunden ungern den Laufpass gibt, ist wahrscheinlich dieser: Verliert eine Freundschaft an Bedeutung, empfinden wir das als persönliches Versagen – zu scheitern fühlt sich immer unangenehm an. Und so spüren zum Beispiel junge Erwachsene „eine starke Verpflichtung, mit den Leuten befreundet zu bleiben, mit denen sie aufgewachsen sind“, sagt die US-Journalistin Liz Pryor, die eines der seltenen Bücher geschrieben hat, die sich ausschließlich um das Schlussmachen mit Freunden drehen; Titel: „What Did I Do Wrong? When Women Don’t Tell Each Other the Friendship Is Over“.
Dabei gibt es gerade in der Zeit, nachdem man von zu Hause ausgezogen ist, Schule und Kindheit hinter sich gelassen hat, viele Veränderungen, die die besten Freunde von einst in verschiedene Richtungen treiben können: Unterschiedliche Unis oder Jobs, Bekanntenkreise, politische Haltungen – oder einfach nur die neue Lieblingsbar, mit der der andere nichts anfangen kann.
Nach dieser Phase, etwa im Alter zwischen 20 und 30, kehrt dann meist Ruhe ein. Wenn die Persönlichkeitsentwicklung nicht mehr in Überschallgeschwindigkeit vonstatten geht, man sich nicht mehr alle zwei Wochen neu erfindet, werden auch die Freundschaften stabiler. Anders gesagt: Die Bereitschaft, mit der wir in jungen Jahren neue Leute kennenlernen, nimmt im Laufe der Zeit ab. Je älter man werde, desto energischer halte man an bestehenden Freundschaften fest, schreibt der Psychoanalytiker Horst Petri in seinem Buch „Der Wert der Freundschaft“.
Und wenn es doch zu einer freundschaftlichen Schollendrift kommt und man von dem Menschen, mit dem man früher dreimal täglich telefonierte, nichts mehr wissen will?
Interessanterweise fordert keiner der wenigen Experten, die sich mit dieser heiklen Frage beschäftigen, eine direkte Aussprache. „Sich zusammensetzen, dem anderen die Hand auf die Schulter legen und dann die große, ehrliche Aussprache führen – seien wir ehrlich, das ist doch vollkommen unrealistisch“, sagt die Journalistin Liz Pryor: „Selbst Psychotherapeuten, die dies raten, haben mir gegenüber zugegeben, dass sie dazu nie den Mut aufbringen würden.“
Pryors Rat lautet stattdessen, sich entweder zurückzuziehen und abzuwarten, ob sich die Freundschaft mit niedrigerer Intensität fortführen lässt. Oder, falls die andere Seite die subtilen und grausamen Hinweise (keine Rückrufe mehr, ständige Absagen) nicht zu deuten weiß – einen Brief zu schreiben. „Keine E-Mail, einen Brief! Erklären Sie Ihre Situation, sagen Sie, dass Sie auch nicht genau wissen, was Sie tun sollen und den anderen nicht länger im Unklaren lassen wollen.“ Wichtig sei, auf Schuldzuweisungen und Vorwürfe zu verzichten. „Das provoziert nur Verteidigungsreaktionen oder Rechtfertigungen und beschädigt dadurch die schöne Zeit, die man ja zweifellos miteinander hatte.“
Bevor man den Brief abschickt, sollte man sich seiner Sache absolut sicher sein. Denn die Freundschaft später, wenn das Interesse wiedergekehrt ist, zu reaktivieren, kann als beinahe ausgeschlossen gelten.
Womöglich müssen sowieso nur Frauen zu Stift und Briefpapier greifen: „Bei Männern basieren Freundschaften zu einem großen Teil auf gemeinsamen Aktivitäten und Interessen. Sie arbeiten zusammen, treiben zusammen Sport, hören dieselbe Musik“, sagt Soziologin Rubin. „Sollte diese Gemeinsamkeit wegfallen, ist es für die meisten von ihnen viel weniger traumatisch, wenn dadurch auch die Freundschaft austrocknet, da weniger Gefühle im Spiel sind.“
Laut Liz Pryor hat jede erwachsene Frau schon mal „eine emotional schmerzhafte Trennung in einer Freundschaft erlebt. Aber nur ungefähr die Hälfte der Männer.“ Frauen hätten in einer Freundschaft sogar eher als in einer Liebesbeziehung das Problem, rechtzeitig zu sagen, was sie stört. Stattdessen „fressen sie Dinge, die sie an der besten Freundin nerven, in sich hinein“.
Umso größer sind Erleichterung und Befreiung, für die ein Schlussstrich im Idealfall sorgen kann. Das ganze Verdruckste, die Ausreden und vorgeschobenen Gründe, warum man keine Zeit mehr hat, sind mit einem Schlag vorbei. Es klingt unangenehm und fies, aber es gibt sogar eine Art kurzen Machtrausch dabei; die Gewissheit, selbst die freie Entscheidung zu haben, mit wem man seine Zeit verbringt. Und zu begreifen: Der andere kann nichts dagegen tun.
Andererseits kommt früher oder später Reue auf und man fühlt sich schlecht. „Wir haben Mitleid mit dem Verlassenen. Aus diesem Mitgefühl entstehen Schuldgefühle und aus denen entsteht Wut“, glaubt Lillian Rubin.
Die Soziologin hat dies schon selbst erlebt. Sie erzählt, dass einige langjährige Freundschaften zerbrachen, als sie neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit zu malen begann und sich dadurch in einem neuen Umfeld von Künstlern statt von Akademikern wiederfand. „Aber für Schuldgefühle gibt es keinen Grund. Die einzige Verpflichtung, die wir haben, ist die andere Person nicht absichtlich zu verletzen. Abgesehen davon, können wir keine Verantwortung dafür übernehmen, wie sich jemand anderes fühlt.“
Es ist nun wirklich kein Verbrechen, nicht mehr mit jemandem befreundet sein zu wollen. Diese eigentlich sehr banale Erkenntnis nimmt schon einen Teil der Last. Und wer ständig Lügengeschichten erfindet, warum es mit dem Kaffeetrinken schon wieder nicht klappt oder warum man partout keine Zeit für einen gemeinsamen Kinobesuch hat, ist sicher ein schlechterer Freund als jemand, der dem anderen ermöglicht, selbst einen Schlussstrich unter die gemeinsame Zeit zu ziehen.
Allein: So gut die Brieflösung in der Theorie klingt, so unangenehm ist es, wenn man selbst derjenige ist, der aufgefordert wird, sich doch bitte die Freundschaftspapiere beim Pförtner abzuholen. Der eine mag die klare Ansage schätzen – aber ebenso schnell fühlt man sich durch sie verletzt und hätte lieber nicht so genau gewusst, dass die eigene Freundschaft als entbehrlich gesehen wird.
Wie soll man sich verhalten, wenn man zwar merkt, dass jemand auf die gemeinsame Freundschaft keinen Wert mehr legt, aber nicht den Mut findet, es auszusprechen? Nachfragen bleiben in der Regel erfolglos: „Der andere wird es abstreiten und behaupten, alles sei in Ordnung“, meint Liz Pryor. „Aber wenn die innere Stimme sagt, etwas stimmt nicht, sollte man diesem Gefühl vertrauen. Wenn man seit sechs Monaten nur noch anruft und nicht mehr angerufen wird – was soll sich da ändern?“ Auch in diesem Fall bleiben zwei Möglichkeiten: Aussprache oder Stillschweigen. „Bringen Sie die Sache für sich zu Ende. Schreiben Sie dem anderen einen Brief und erledigen Sie damit dessen schmutzigen Job“, schlägt Pryor vor. Kollegin Lillian Rubin rät hingegen zu würdevoller Selbstbeherrschung: „Ziehen Sie sich zurück und versuchen Sie, die Sache zu vergessen.“ Wenn der andere wirklich nur in einer seltsamen Phase steckt und Zeit für sich selbst braucht, werde er von allein zurückkommen.
Und sollte dies nicht der Fall sein: Vielleicht findet man dann auch mal wieder Zeit, sich selbst bei unabsichtlich vernachlässigten Freunden zu melden, bei denen man wirklich schon lange etwas von sich hören lassen wollte. Denn von denen gibt es ja meist auch eine ganze Menge.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: Tagesspiegel
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