(Anlässlich des großartigen Films „The Wrestler“ mit Mickey Rourke habe ich einen Artikel über Backyard Wrestling entstaubt, den ich vor einiger Zeit für das Musikmagazin Intro zum Film „The Backyard“ von Paul Hough geschrieben habe.)
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The Backyard – „Schmerz ist das einzige, das immer für mich da sein wird.“
In der Einöde von Nevada graben zwei Jungen ein Loch in den trockenen Sandboden hinter ihrem Haus. Sie füllen es mit Glühbirnen und Neonröhren, die sie von einem One-Dollar-Store geholt haben und decken legen ein Brett darüber, um das Stacheldraht gewickelt ist. Ihre Mutter, die schon im Baumarkt mit dabei war, lobt die Konstruktion – dann sieht sie zu, wie beide mit Klappstühlen und stacheldrahtumwickelten Baseballkeulen aufeinander losgehen und sich gegenseitig durch das Brett, das inzwischen auch noch angezündet wurde, In die Grube schleudern.
So sieht die Eingangssequenz des Dokumentarfilms „The Backyard“ aus, gleichzeitig waren die beiden Brüder und die „Three Stages of Hell“, wie sie ihre Inszenierungen nennen, der Einstieg für Regisseur Paul Hough in die Thematik: „Als ich zum ersten Mal einen Kampf von ihnen gesehen habe, war ihre Mutter nicht dabei. Einer von ihnen musste danach mit Verbrennungen in die Notaufnahme. Als die Mutter dort auftauchte, erwartete ich riesigen Ärger. Aber sie wollte nur wissen, ob die beiden eine gute Show abgeliefert hätten. Das war für mich so unbegreiflich, dass ich beschloss, einen Film über Backyard Wrestling zu drehen.“
Sein Film nimmt die Protagonisten ernst – was nicht ganz leicht ist, angesichts der manchmal lächerlichen Überinszenierung der Kämpfer oder der verzweifelten Versuche eines Wrestlers, seine White-Trash-Trailerpark-Mum einen einzigen geraden Satz in seine Videokamera sprechen zu lassen. Auch der Wrestler „The Lizard“ wäre ein leichtes Ziel, wie er in seinem Zimmer steht, in dem er Wrestling-Figuren für rund 10000 Dollar sowie Memorabilia von Bettwäsche bis zum Champion-Gürtel aus Plastik angehäuft hat. Trotzdem wird er so einfühlsam portraitiert, dass man seine Motive am Ende des Films verstehen kann. Die Sequenz, in der die Kamera den Lizard zum Casting der WWE² in Las Vegas begleitet, wo er im Auto übernachtet, sich selbst Mut zuspricht und um vier Uhr morgens aufsteht, um der erste in der Schlange zu sein, gehört zu den stärksten und anrührendsten im ganzen Film.
Zwei andere Wrestler, die man in „The Backyard“ näher kennen lernt, kommen aus Tucson, Arizona: „Chaos“, dessen Markenzeichen es ist, seinem besiegten Gegner seine Visitenkarte an die Stirn zu tackern und „Scar“, der wegen einer schweren Lungenkrankheit beinahe seine komplette Kindheit im Krankenhaus verbracht hat und nach insgesamt 29 Operationen sagt. „Chaos“ ist nach einem Besuch einer Wrestlingschule inzwischen seit etwa einem Jahr Profi, „Scar“ hat ebenfalls eine professionelle Wrestling-Karriere begonnen, arbeitet nach einer Verletzung aber ausschließlich als Promoter für seine Federation „Strictly Extreme Wrestling“.
Hofft auf den Durchbruch: Nachwuchs-Wrestler ScarRyan van Horn (Chaos) und Matt Haugen (Scar) über:
Eltern
Chaos: Früher haben mir meine Eltern Reißnägel usw. gekauft und mir dadurch geholfen. Als dann alles etwas blutiger wurde, waren sie nicht so begeistert. Aber sie unterstützen mich – egal was passiert.
Scar: Meine Mutter ist innerlich 100 Prozent dagegen – aber sie lässt mich machen. Mein Vater kommt manchmal zu den Shows. Das macht mich einerseits stolz, andererseits bin ich dann immer sehr nervös und habe Angst, etwas zu versauen.
Verletzungen
Chaos: Das schlimmste war ein gebrochener Knöchel. Damals wog ich 140 Kilo, versuchte einen „450 Splash“ und landete mit meinem fetten Arsch genau auf meinem linken Knöchel. Der war hin, hahaha.
Scar: Ich habe einen Metallstift in meinem Rücken und kann nicht mehr kämpfen. Im Februar hatte ich einen Fight, kletterte für einen Sprung auf eine Leiter, stürzte herunter und fiel genau auf meinen Rücken.
Angst
Chaos: Die größte Angst habe ich davor, dass ich Profi werde und meine Freunde, die seit Jahren zu mir halten, das nicht schaffen.
Scar: Ich habe vor nichts Angst. Außer vielleicht vor meiner Exfreundin…
Träume
Chaos: Mein Traum ist, es in Japan für die BJW Federation (Big Japan Wrestling) zu wrestlen.
Scar: Mein Traum ist es, an einem College einen 24-7 Pizzabringdienst zu eröffnen. Ich würde mit Golfcarts ausfahren, um Benzingeld zu sparen – gute Idee, oder?
Get In The Ring
So hart die Szenen in „The Backyard“ auch aussehen mögen (Highlights umfassen neben der beschrieben Höllengrube eine mit Stacheldraht umwickelten Krücke und eine Käsereibe) – es ist eine Menge Show dabei. Wird zum Beispiel einem Gegner ein Spiegel über den Kopf geschlagen, wird dieser vor dem Schlag unauffällig umgedreht – die nichtverglaste Seite trifft den Kop: Die Splitter fliegen trotzdem, es besteht jedoch kaum Verletzungsgefahr. Um auch die hartgesottenen Fans zu begeistern, greifen die Wrestler oft zum sogenannten „Blading“: Dabei ritzen sie sich unauffällig mit im Ärmel versteckten Rasierklingen – vorher geschluckte Aspirin lassen das Blut dann richtig tropfen.
Auch wenn der Eindruck entstehen kann: „The Backyard“ ist kein Exploitation-Streifen, in dem ein paar verrückte Jugendliche zur Schau gestellt werden. Es ist ein Film über Gewalt und den Spaß daran, sicher. Es ist aber auch ein Film über das Leben als Teenager, über Jugendträume und Heldenverehrung, über Langeweile, Sinnsuche und Freundschaft.
Für viele der im Film portraitierten Wrestler und ihre Familien sind die Kämpfe im Hinterhof ein legitimes Hobby, so wie in einer Band zu spielen oder auf dem Basketballplatz ein paar Körbe zu werfen. Die Samstagnachmittage im Backyard sind zweierlei: Einerseits ein gemeinsamer Zeitvertreib mit Freunden – denn egal wie sehr sich die Kontrahenten im aus Autoreifen, Holzlatten und dem obligatorischen Stacheldreht selbst gebauten Ring zurichten: Am Ende des Tages sitzen doch alle wieder Chips futternd um den elterlichen Fernseher und schauen sich gemeinsam die gefilmten Kämpfe an. Zum Anderen erscheint Backyard Wrestling für viele der Beteiligten, die ihr Leben zwischen McDonald’s-Stechuhr und dem Eignungstest für die Polizeischule führen (an dem The Lizard scheitert, wie im Film dokumentiert wird), als die einzige Chance, aus der Tristesse des verarmenden Amerika herauszukommen. Oder wie es Bo Gates, der die „Three Stages of Hell“ inszeniert hat, trocken feststellt: „Ich würde alles tun, um ein Wrestling-Superstar zu werden – so lange es nicht das Essen von Menschen beinhaltet.“
Blutige Angelegenheit: Mit Aspirin wird das Blut der Kämpfer dünnflüssig gemacht, damit alles noch gefährlicher aussieht als es eh schon ist¹ Federation
Kurz: „Fed“. Am Profibetrieb orientierter Zusammenschluss von Wrestlern, der Kämpfe organisiert, diese filmt und meist via Internet verbreitet, etc. Die Namen reichen von nett („BBW – Bechtheim Backyard Wrestling“ oder „CAW – Crazy Ass Wrestling“) bis zu martialisch („LMSW – Last Men Standing Wrestling“ oder „YOH – Yard Of Honor“).
² WWE
Die einstige Word Wrestling Foundation (WWF), die mit „Wrestlemania“ und Superstars wie Hulk Hogan 1985 das Wrestling in den Mainstream peitschte, heißt heute WWE (World Wrestling Entertainment). Den Traum, Profiwrestler zu werden, träumen viele: Jedes Jahr, wenn die WWE zum „Tough Enough“-Casting aufruft, gehen über 5000 Bewerbungsvideos ein.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: Intro
Fotos: Verleih