Zu einer Biografie gehören nicht nur die Schulabschlüsse und Wohnorte, sondern auch die Produkte, Frisuren und Moden, die man mit der Zeit so mitgemacht hat.
a-ha „Take On Me“ (1985, Regie: Steve Barron)
Während die anderen Kinder schon Kabelfernsehen und damit MTV oder zumindest einen längst vergessenen Sender namens „Tele5“ hatten, der Musikvideos zeigte, war mein einziger Zugang zu diesem neuen Medium eine ORF-Variety-Show namens „Wurlitzer“. Wenn ich mich recht erinnere, hatte der Moderator einen Wurliwurm als Sidekick und es kamen meist Sketche und Volksmusik. Aber dies stundenlang stoisch zu erdulden, war es sowas von wert, wenn am Ende Morton Harket und sein Mädchen durch den zerknitterten Gang liefen. Dinge, die ich heute – im Gegensatz zu damals – weiß:
- Sänger Morton Harket und die Schauspielerin wurden für ein Jahr wirklich ein Paar.
- Für die Szene mit der Comic-Hand, die aus dem Heft ragt, stecke Harket seinen Arm durch eine Luke im Cafétisch.
- Ja, man kann dieses Lied zu oft hören.
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Massive Attack „Unfinished Sympathy“ (1991, Regie: Bailie Walsh)
In der Schule demonstrierten wir gegen den ersten Irak-Krieg und die coolen Typen aus Bristol nannten sich eine Weile nur „Massive“. Das war mir sympathisch, auch wenn ich musikalisch die ganze elektronische Remix- und DJ-Sache noch mit Argwohn verfolgte. Doch das Video, in dem die so traurige, so schöne Shara Nelson – in einer einzigen, über fünf Minuten langen Einstellung gefilmt – den West Pico Boulevard in L.A. herunterschlendert und dabei Männer ohne Beine, Kinder mit Wasserpistolen und Gangs mitz Pitbulls umkurvt, leuchtete mir sofort ein. Das war kein „Promo Video“. Das war Kunst. Und das kalifornische Abendlicht eine Verheißung. Selten war ich MTV so dankbar für seine Angewohnheit einem Videos in der Heavy Rotation dreimal pro Stunde um die Ohren zu hauen. Denn wir hatten zwar inzwischen Kabelfernsehen, aber immer noch keinen Videorekorder. Und „Unfinished Sympathy“ ist ja eines der Videos, in denen man auch beim Hundertsten Sichten noch etwas Neues entdeckt – wie zum Beispiel das knutschende dicke Paar bei 4:11. Jahre später würde Richard Ashcroft mit „Bitter Sweet Symphony“ den genau gleichen Stunt versuchen und alleine durch die Straßen streifen. Wieder sagenhaft – aber eben nur zweiter.
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Drop Nineteens „Winona“ (1992, Regie: unbekannt)
Nach langen familieninternen Diskussionen war inzwischen auch ein Videorekorder angeschafft worden und der feine Herr Sohn saß von nun an abends mit dem Finger auf der „Record“-Taste vor der Glotze und schnitt Videos wie dieses hier bei „120 Minutes“ mit. Dem coolen Alternarockformat des Senders, der damals noch aus London Souveränität, Coolness und Bescheidwissen in deutsche Provinzhaushalte hinausstrahlte. Und was für eine Welt sich da plötzlich zwischen Schrankwand und Schultasche auftat: Bunte Farben und LSD-Lyrics, in Zeitlupe zum Auto rennen und beim Fahren zum Fenster raushängen, stundenlang Sauerei beim Frühstück in der Kommunenküche der Bandkollegen machen und anschließend auf dem Vorgarten mit einer Gitarre in der Hand herumtollen – so stellte ich mir das Leben vor, wenn ich endlich von Zuhause ausgezogen sein würde. Und beinahe wäre es auch so gekommen. Ach so: Bei der besungenen Winona handelt es sich selbstverständlich um die Filmschauspielerin, in die ich damals wie jeder Indiejunge verliebt war. Kann man heute wohl nur noch ebenso schwer nachvollziehen, wie die Ästhetik dieses Videos. Aber damals war all das haargenau richtig.
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Smashing Pumpkins „1979“ (1996, Regie: Jonathan Dayton & Valerie Faris)
Schon wieder rumrasen zu Fuß und Körperteile aus dem Autofenster halten, schon wieder nordamerikanische Weite, schon wieder bunte Schlabberklamotten. Verrückte Neunziger. Meine Faszination für amerikanischen High-School-Fun zwischen nächtlichem Pool, leeren Supermarktparkplätzen und dem Hügel über der verhassten Kleinstadt war immer noch ungebrochen, wie ein Junkie saugte ich das alles via MTV und VHS-Kopien von „Breakfast Club“ und „Ferris macht blau“ auf. Und in einem wunderschönen „Life Imitates Art“-Moment lief als ich in jenem Jahr zum ersten Mal die Turnhalle einer (wenn auch kanadischen) High School betrat, tatsächlich und ungelogen „1979“ über die Lautsprecher. Oberkürbis Corgan hält das Video nach wie vor für das beste, dass seine Band je gemacht hat – angeblich musste es zweimal gedreht werden, da jemand die Bänder nach dem Dreh auf einem Autodach liegen ließ. Endlich jemand, der noch verpeilter war als man selbst. Wie hätte man nicht Fan sein können?
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Air „All I Need“ (1998, Regie: Mike Mills)
Vielleicht naiv, zum Studium in eine westfälische Mittelstadt aufzubrechen und zu hoffen, dass das Leben dort sein würde wie in dieser wundervollen Kurzdokumentation über die große Liebe von Werbefilmer, Spielfilmmacher, Marc-Jacobs-Stoffdesigner, Covergestalter und Skateboard-Tausendsassa Mike Mills. Die nächsten Jahre verbrachte ich statt mit coolen Skategirls, Fugazi-Postern und Autoschlummern mit Wohnheim- und Verbindungspartys, überfüllten Hörsälen, „Feuerzangenbowle“-Screenings und anderem studentischen Amusement. Selbst schuld.
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Wu-Tang Clan „Gravel Pit“ (2000, Regie: Joseph Khan)
Ähnlich wie bei den elektronischen Beats von Massive Attack stand ich als Gitarrenjunge auch dem Phänomen Hip-Hop immer mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Was hatte das mit meinem Leben zu tun? Offenkundig nichts. Aber das hatte Skateboarden in Kalifornien und Liebesdramen in der High School ja auch nie gehabt. Und beim Wu-Tang Clan durfte man ja auch als weißer Gymnasiast mit dem Kopf nicken. Hier ging es vielleicht zum ersten Mal in meiner Videowelt nicht mehr um Teenage Angst, Bands in Wohnzimmern, Sehnsucht und den neugierigen Blick auf eine große weite Welt, sondern um gute Laune, Dekadenz, Bikinis, Spieltische, Ninjas und solche Sachen. Man kann sich’s ja nicht immer aussuchen, was einen wie erwischt.
Wu Tang Clan ~ Gravel Pit – MyVideo
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Junior Senior „Move Your Feet“ (2003, Regie: Shynola)
Ein Ausflug nach Italien mit Freunden, die noch Spitznamen trugen und mit denen man sich nahezu blind verstand. Das kleine dunkle Apartment verfügte über einen Fernseher und das italienische Musikfernsehen verfügte noch über etwas, was dem deutschen gerade abhanden kam: Musikvideos. Freund eins schulte danach sofort zum Grafikdesigner um, wir beiden anderen hüpften einfach weinbeschickert zur Musik umher und freuten uns über das Eichhörnchen.
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UNKLE „Heaven“ (2009, Regie: Spike Jonze)
Die Momente, in denen man heute überhaupt noch Musikvideos zu sehen bekommt (wenn man nicht bei Youtube gezielt danach fahndet), sind rar geworden: In einem Flughafencafé in Ägypten tanzt Beyonce ohne Ton und bei „Singstar“ auf der Playstation stelle ich fest, dass die Pipettes ein sehr lustiges Video zu „Pull Shapes“ gemacht haben. Aber auf MTV läuft nur noch „Flavor of Love“ und bei den Plattenfirmen hat wohl niemand mehr Geld für dreieinhalb Minuten Kurzfilmkunst, über die dann doch keiner mehr spricht. Nur manchmal versteckt sich in den Hunderten „Heyho, guck dir mal den Link an“-Mails zwischen Fotos von niedlichen Tieren und anderen Internetschockern noch ein Musikvideo wie dieses hier. Spike Jonze hat es gedreht , dessen Werk von „Drop“ und „Buddy Holly“ über „Sabotage“ und „Weapon of Choice“ bis zu „Praise You“ und „Elektrobank“ eh eine ganz eigene Produktbiografie verdient hätte. Skateboardfahren, Sonne und Explosionen. Gänsehaut und Nostalgie. Und der Wunsch, das eigene Leben möge doch auch bitte von jemandem wie Spike Jonze permanent in Zeitlupe abgefilmt werden.
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Text: Christoph Koch
Erschienen in: Süddeutsche Zeitung/jetzt.de
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