Die gängige Vorstellung bei einer Katastrophe: Alle rennen panisch durcheinander, sterben. Doch gerade in Extremsituationen verhalten wir uns sozial. Die Risikoreporterin Amanda Ripley sagt: Wir haben mehr Kontrolle über unser Schicksal, als wir glauben.
Frau Ripley, Sie haben für das »Time«- Magazine mit Menschen gesprochen, die Terroranschläge, Geiseldramen, Flugzeugabstürze und Naturkatastrophen überlebt haben. Was war die überraschende Erkenntnis?
Die wirkliche Faszination begann, als ich zu einem Treffen der Überlebenden von 9/11 ging. Diese Menschen saßen nach ihrer Rettung zusammen und erzählten, wie sich das damals körperlich und psychisch angefühlt hat – und ihre Einsichten waren so überraschend, praktisch und vor allem nützlich, dass ich unbedingt mehr über das Verhalten von Menschen in Extremsituationen erfahren wollte. Ich wurde besessen und interessierte mich plötzlich auch für sinkende Autofähren und Flugzeugabstürze – nicht nur für Terrorangriffe.
Sowohl in Deutschland als auch den USA laufen gerade große Forschungsprojekte, mit denen Technik gefördert wird, die der Terrorbekämpfung dient. Helfen uns Nacktscanner und Gesichtserkennung weiter?
Ich kann gar nicht zählen, in wie vielen Sitzungen der Homeland Security ich saß. Die meiste Zeit wird dort über technische Neuerungen geredet. Ich glaube nicht, dass sich allzu viele Katastrophen damit verhindern lassen – weder Terrorismus noch Erdbeben. Wir müssen viel mehr über die Menschen reden. Nicht über Polizei, Feuerwehr und Helfer – sondern über die ganz normalen Leute.
Aber die geraten doch einfach nur in Panik und rennen schreiend durcheinander, wenn es mal kracht. Überhaupt nicht! Menschen geraten nur selten in diese Art von Aktionismus. Das große Problem ist das exakte Gegenteil: Sie hören komplett auf, sich zu bewegen. Sie frieren ein. Wir nennen das »negative Panik«. Aber die gute Nachricht ist: In so manchen Situationen können wir dieses Problem lösen. Durch Training oder Führungspersonen können wir diese tödliche Lethargie überwinden.
Woher kommt dann dieses Panikklischee?
Übertrieben gesagt: Die Mächtigen hatten schon immer Angst vor der Masse und deren Unkontrollierbarkeit. Ich hatte viele Gespräche mit hochrangigen Beamten, die zugaben, die Öffentlichkeit nicht über Bombendrohungen oder andere Krisen informiert zu haben. Sie waren sich sicher, die Menschen würden in Panik geraten.
Aber wenn die Menschen schon nicht zu panischen Idioten werden, dann doch zu gnadenlosen Egoisten ohne jede Hilfsbereitschaft, oder?
Auch das ist falsch! Bei Katastrophen werden wir wahnsinnig sozial. Wir tun uns mit Wildfremden zusammen und wollen unbedingt in dieser Gruppe bleiben. Bei Minenunglücken konnte man beobachten, dass Arbeiter selbst dann in ihrer Gruppe blieben, wenn sie glaubten, diese Gemeinschaft trifft gerade eine falsche Entscheidung.
Immer noch besser, gemeinsam zu sterben als alleine?
Sozusagen. Das Angstverhalten des Menschen ist sehr alt – und stark mit dem von Tieren verwandt. Da es für unser Überleben dienlich ist, mit anderen zusammenzubleiben, ist es auch sinnvoll, diese anderen Menschen gut zu behandeln. Ich habe noch keinen einzigen Überlebenden aus dem World Trade Center getroffen, der nicht von beeindruckenden Begegnungen und immenser Freundlichkeit Fremder berichtet hätte.
Wie muss man sich also die Situation in den rauchenden Türmen vorstellen?
Es herrschte beinahe völlige Stille und riesige Höflichkeit. Von unten wurden Wasserflaschen nach oben gereicht, Gebrechlichen oder Behinderten wurde der Vortritt gelassen. Dasselbe haben Menschen von den Anschlägen in Mumbai berichtet: Wildfremde, die in einem Hotel vom Zufall zusammengeworfen werden, helfen einander, statt sich nur um sich selbst zu kümmern.
Das klingt, als hätte Sie die Recherche eher optimistisch zurückgelassen?
Absolut. Ich mache mir viel weniger Sorgen als vorher. Ich habe mehr Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten, mit einer Krise umzugehen – und in die Menschen um mich herum.
Was, außer meinen Mitmenschen, ist noch hilfreich im Fall einer Katastrophe?
Wer versteht, wie sein Gehirn unter Stress arbeitet, hat bessere Überlebenschancen. Bis zu einem gewissen Grad kann Stress hilfreich sein und uns effektiver machen. Aber wenn er zu stark wird, funktionieren wir plötzlich nicht mehr. Unser Gehirn verarbeitet Informationen dann nicht mehr so gut. Die einfachsten Dinge sind im Ernstfall plötzlich nicht mehr ganz so einfach. Wir bekommen einen Tunnelblick. Wir übersehen große Notausgangsschilder, verlieren unsere Koordinationsfähigkeit und bekommen plötzlich den Gurt nicht mehr auf.
Wie kann ich das verhindern?
Ein wichtiges Mittel, um zu verhindern, dass Stress uns überwältigt, ist kontrollierte Atmung. Das lernen auch Polizisten und Elitesoldaten: vier Sekunden einatmen, vier Sekunden halten, vier Sekunden ausatmen. Unsere Atmung verbindet unseren Verstand mit unserem Unterbewusstsein. Ganz wichtig ist deshalb, sich vorher mit den Sicherheitsvorkehrungen vertraut zu machen, dann, wenn unser Gehirn am besten arbeitet.
Wir sollten also im Flugzeug nicht Zeitung lesen, wenn die Stewardess die Notausgänge zeigt. Aber mal ehrlich: Im Falle eines Absturzes hat man doch eh keine Chance.
Das ist grundverkehrt! Von allen schweren Flugzeugunglücken zwischen 1983 und 2000 – und da sind keine kleinen Pannen dabei, sondern wirklich nur gravierende Unfälle – haben 56 Prozent der Passagiere überlebt. Man hat also selbst bei den harten Fällen eine Fifty-Fifty-Chance. Ich möchte schon zu der Hälfte gehören, die überlebt ? Sie nicht?
Eigentlich schon?
Dachte ich mir. Fragen Sie mal Menschen, die beruflich mit Flugzeugunglücken zu tun haben, was sie tun, wenn sie ihren Sitzplatz einnehmen. Sie zählen die Reihen zum Notausgang. Weil sie wissen, dass wenn das Licht ausfällt oder Rauch in die Kabine strömt, man die Hand vor Augen nicht mehr sieht. Es mag uns albern erscheinen, aber wir stopfen unseren Kopf mit so viel sinnloseren Informationen voll – warum nicht mit einer kleinen Zahl, die uns das Leben retten kann?
Aber gerade wenn es um Terrorakte geht, ist unsere Furcht doch viel höher als die reale Gefahr. Wir haben Angst vor Selbstmordattentätern, dabei sterben wir an Lungenkrebs oder Herzinfarkt.
Das ist richtig. Es liegt daran, dass unser Hirn nicht sehr gut darin ist, genau zu erkennen, welches Risiko wie hoch ist. Deshalb haben wir vor Flugzeugabstürzen mehr Angst als vor Autounfällen – obwohl die viel häufiger sind. Nur weil wir uns vor Terrorismus so übertrieben fürchten, ist er überhaupt effektiv. Trotzdem sind viele Vorkehrungen, die ich empfehle, sinnvoll. Denn sie gelten ja für viele Arten von Unglücken. Außerdem wende ich vieles von dem, was ich bei den Recherchen gelernt habe, im täglichen Leben an.
Wie also können wir uns vorbereiten?
Es klingt spießig ? aber hängen Sie einen Rauchmelder in Ihrer Wohnung auf und achten Sie darauf, dass die Batterie voll ist. Rauch tötet viel mehr Menschen als Feuer. Lesen Sie die Sicherheitsinformationen im Flugzeug. Lernen Sie Ihre Nachbarn kennen. Im Falle einer großen Katastrophe werden Sie es die ersten drei Tage nicht mit offiziellen Helfern zu tun haben – sondern mit den Menschen nebenan, die ebenfalls auf Hilfe warten. Fahren Sie in der Arbeit nicht mit dem Aufzug, sondern nehmen Sie die Treppen. Nicht nur, weil es gesünder ist, sondern weil im World Trade Center viele Menschen nicht mal wussten, wo die Treppen sind. Und noch eins: Nehmen Sie unbedingt an der Feuerübung in Ihrer Schule, Uni oder Firma teil.
Wie reagieren Sie, wenn in der »Time«-Redaktion ein Probealarm stattfindet und Ihre Kollegen am Schreibtisch sitzen bleiben, weil sie gerade noch dieses wahnsinnig wichtige Obama-Stück fertig schreiben müssen?
Genau das ist vor zwei Wochen erst passiert, woher wissen Sie das? Ich habe in meinem Büro schon lange den Ruf, die Leute zu drangsalieren, den Feueralarm ernst zu nehmen. Und so langsam wird es auch besser. Vor ein paar Jahren noch war ich die Einzige, die draußen auf der Straße stand. Ich und der Typ aus der Poststelle.
Lassen Sie mich raten: weil der eine Zigarettenpause machen wollte?
Nein, weil er vorher als Soldat im Irak war. Leute mit einer militärischen Ausbildung machen sich nie über solche Übungen lustig. Weil sie wissen, wie wichtig sie sind. Es sind nur die Schreibtischtypen, die sich zu cool und männlich dafür sind, eine Feuerübung mitzumachen.
Eine der anrührendsten Episoden aus Ihrem Buch ist die von Rick Rescorla, dem viele Angestellte aus dem World Trade Center ihr Leben verdanken?
Rick war der Sicherheitsleiter von Morgan Stanley, dem größten Mieter im WTC, und hatte jahrelang bei der Armee und in Sicherheitsfirmen gearbeitet. Gleichzeitig hatte er großes Vertrauen in die sogenannten Zivilisten. Nach den ersten Anschlägen von 1993 erkannte er, dass die Leute zu lethargisch waren, wenn es darum ging, das Gebäude zu verlassen. Also quälte er die wohlhabenden Investmentbanker immer wieder mit einer Stoppuhr in der Hand die Treppen runter. Jede dieser Übungen kostete Morgan Stanley viel Geld und ihn viele Sympathien. Aber es war ihm egal.
Der 11. September gab ihm dann auf tragische Weise Recht?
Als das erste Flugzeug in die Türme krachte, gab es eine Durchsage, dass alle an ihren Schreibtischen bleiben sollten. Aber Rick schnappte sein Megaphon und schickte die Menschen die Treppen hinunter, sang dabei Lieder, um sie zu beruhigen. Am Ende waren seine rund 2700 Schutzbefohlenen draußen und in Sicherheit. Nur dreizehn starben in den Türmen – fünf davon waren Rick und seine Mitarbeiter, die umdrehten und nach weiteren Menschen suchten, die sie in Sicherheit bringen wollten. Sie wurden zuletzt im zehnten Stock gesehen, auf dem Weg nach oben, bevor der Turm zusammenbrach.
Welche Unterschiede gibt es zwischen Frauen und Männern, wenn ein Unglück passiert?
Das kommt auf die Art des Unglücks an. Bei dem Tsunami 2004 starben in manchen Gegenden zehnmal so viele Frauen wie Männer. Weil sie seltener schwimmen konnten und ihnen oft die körperliche Kraft fehlte, sich festzuhalten. Bei Überschwemmungen sterben wiederum häufiger Männer. Sie sind weniger vorsichtig und fahren häufiger mit dem Auto durchs Wasser, was bei Überflutungen die häufigste Todesursache ist. Frauen, vor allem solche mit Kindern, lassen sich früher evakuieren und sterben dadurch seltener in Hurrikans. Im World Trade Center wurden wiederum doppelt so viele Frauen verletzt wie Männer – wegen ihrer hohen Schuhe.
Viele Opfer des Tsunami hätten überleben können, wenn sie die Warnsignale wie schnell zurückfließendes Wasser und unruhige Tiere richtig gedeutet hätten. Warum haben wir derart verlernt, unsere Umgebung zu verstehen?
Selbst in Gebieten, in denen es häufiger zu Katastrophen kommt, legen Hotels keine Warnhinweise in den Zimmern aus – weil sie die Gäste nicht mit so was belasten wollen. Wir leben immer verstreuter und schneller und verlieren das Wissen, das früher in der Gruppe weitergegeben wurde. Dazu kommt diese hässliche Angst vor Verantwortung. Gleichzeitig vertrau en wir immer mehr auf Technik. Wir warten also auf eine Meldung des Satellitenwarnsystems, während uns früher unsere Großeltern erzählt hätten, wie die Vorzeichen eines Tsunami aussehen und dass wir dann besser schnell auf einen Berg steigen sollten.
Menschen verhalten sich in Katastrophen sehr unterschiedlich. Manche werden starr vor Angst, manche zu Helden. Manche überleben, manche sterben. Gibt es einen Weg herauszufinden, in welche Kategorie man selbst fallen würde?
Es ist sehr schwierig, aber es gibt Indikatoren. Haben Sie Selbstvertrauen? Sind Sie eine Person, die daran glaubt, ihr Schicksal selbst bestimmen zu können? Wollen Sie Ihr Schicksal selbst bestimmen? Sind Sie gesund und fit? Leben Sie in einer gesunden Umgebung? Der Zustand vor der Katastrophe ist wichtiger als die Katastrophe selbst.
Können Sie das genauer erklären?
New Orleans litt vor allem deswegen so schwer unter Katrina, weil es vorher eine sehr kranke und mit Problemen belastete Stadt war. Eine andere Stadt wäre inzwischen schon wieder auf den Beinen.
Amanda Ripley ist beim »Time«-Magazine Redakteurin für die Themen Risiko und innere Sicherheit. Ihr Buch »Survive. Katastrophen – wer sie überlebt und warum« ist gerade im Scherz Verlag erschienen.
Interview: Christoph Koch
Erschienen in: NEON
Fotos: Verlag