Das moderne Großstadtleben ist kompliziert: Darf ich andere beim Karaoke ausbuhen? Und wie beende ich einen E-Mail-Flirt? Ein Dutzend guter Ratschläge, die nicht im Knigge stehen.
1. Der gemeinsam mit den Kollegen benutzte Drucker steht so weit weg von meinem Büro – reicht es, wenn ich meine Ausdrucke zweimal täglich abhole?
Nein, solange der Drucker nicht in einem anderen Stadtteil steht, müssen Sie den Kram sofort abholen. Denn nur eine Sache ist schlimmer als sich durch einen 200-Seiten-Stapel der Kollegen wühlen zu müssen, um an den eigenen Ausdruck zu gelangen: Und zwar, wenn schon nach den fünf Seiten, die ein Kollege vor Stunden losgeschickt hat, das Papier alle war – und man nach dem Nachfüllen erst mal eine halbe Ewigkeit warten muss, bis der Drucker die Warteschlange von inzwischen aufgestauten Dokumenten weggearbeitet hat.
2. Soll ich den Kollegen erzählen, wen ich auf der Weihnachtsfeier beim Knutschen gesehen habe?
Auch wenn das Verlangen noch so sehr in Ihnen brodelt, das langweilige Mittagessen mit der Anekdote zu würzen, wie „Tanja aus dem Controlling und der neue Marketing-Praktikant hinter der Garderobe rumgemacht und gar nicht bemerkt haben, wie ich meinen Mantel nahm“: Tun Sie es nicht! Erstens wissen Sie nicht, welchen Schaden Sie damit anrichten – Tanja hat eventuell eine Woche vor der Weihnachtsfeier genau mit dem Kollegen Schluss gemacht, der jetzt dem armen Praktikanten das mieseste Zeugnis schreibt, das die Welt je gesehen hat. Zweitens können Sie je nach Betrunkenheitsgrad vielleicht gar nicht mehr garantieren, dass es wirklich die beiden Personen waren. Und drittens: Selbst wenn Sie alles stocknüchtern und fotografisch dokumentiert haben – würden Sie sich nicht auch wünschen, dass Ihre Kollegen im umgekehrten Falle ein wenig Diskretion wahren? Deshalb: Lieber harmlosen Klatsch verbreiten, etwa, dass der IT-Kollege vor Jahren mal Wettkönig bei „Wetten, dass …?“ war. Verschwiegenheit hat auch Vorteile: Wenn Sie als jemand gelten, der Geheimnisse bewahren kann, werden Ihnen manchmal auch wirklich welche erzählt.
3. Haben Mütter mit Kinderwagen auf dem Bürgersteig immer Vorfahrt?
Im Grunde ja. Nun ist man aber auch als Mutter nicht automatisch über Fragen der Höf- und Menschlichkeit erhaben. Und selbst Mütter, die ihr Kind abgöttisch lieben, müssen darüber nicht so blind werden, dass sie keinen Blick mehr für die Lage ihrer Mitmenschen haben. Und jemand, der mit immer länger werdenden Armen vier volle Bierkisten einen schmalen Bürgersteig entlangträgt, wird unendlich dankbar sein, wenn ihm die Kinderwagenmutter ohne Not den Vortritt lässt und seine Schleppqualen somit um ein paar rettende Sekunden verkürzt. Ähnliches gilt in öffentlichen Verkehrsmitteln. Natürlich haben auch hier Kinderwagenlenkerinnen (oder -lenker) das Recht auf ausreichend Platz im Türbereich. Sich diesen jedoch durch aggressives In-die-Fersen-Stoßen zu erkämpfen, bevor die Umstehenden Gelegenheit haben, Platz zu schaffen – dieses Recht besitzen sie wiederum nicht.
4. Über welche Themen darf man sich in der Sauna unterhalten?
Grundsätzlich ist die Sauna ein Ort der Ruhe, der Erholung – und somit auch des Schweigens. Und das gilt nicht nur für die explizit so bezeichneten Ruheräume, sondern auch für die hölzerne Schwitzbude selbst. Das heißt natürlich nicht, dass kein einziges Wort gesprochen werden darf und Sie mit einer pantomimischen Vorstellung erklären müssen, dass Sie die Sauna nun verlassen, da Sie sonst ohnmächtig zu werden drohen. Aber längere Plaudereien über den letzten Urlaub, den nächsten Bundesligaspieltag sowie über alles, was auch nur im Entferntesten mit Sex zu tun hat, sollten Sie nicht in der Sauna besprechen, sondern bei einem erfrischenden Getränk danach.
5. Ist es in Ordnung, einen schlechten Sänger beim Karaoke auszubuhen?
Nein, denn schlechtes Singen ist ein wichtiger Bestandteil des Karaoke-Rituals. Die Noten nicht zu treffen, aber dennoch voller Herzblut herauszuschmettern, verdient Bewunderung oder wenigstens Respekt – gerade in Zeiten, in denen manche Karaoke-Bars zu Trainingscamps für Castingshow-Aspiranten werden, die mit einer ans Ohr gedrückten Hand so ernsthaft und perfekt wie möglich zum hundersten Mal ihr ganz spezielles Lied darbieten (fast immer handelt es sich um einen Song von Celine Dion, Mariah Carey oder um ein ambitioniertes R&B-Stück). Die einzig ausbuhenswerte Sünde ist, wenn jemand das Mikro nicht mehr aus der Hand legen will, sondern auch bei nachfolgenden Liedern auf der Bühne bleibt und anderen anbietet, man könne doch zusammen singen.
6. Darf ich mich im Zug oder im Flugzeug über Sitzreihen oder den Mittelgang hinweg unterhalten?
Wenn Sie und Ihre Reisebegleitung keine Sitzplätze mehr nebeneinander bekommen haben, ist das sicher betrüblich – liegt aber in der Regel daran, dass Sie zu spät gebucht oder eingecheckt haben. Kein Grund also, die anderen Reisenden nun dafür büßen zu lassen, indem Sie sich in hochgepegelter Lautstärke über Banalitäten wie die Prognosen verschiedener Online-Wetterdienste für die Temperatur am Ankunftsort unterhalten. Gespräche über den Mittelgang hinweg gelten dabei noch als weniger verwerflich, da man sich einander zuwenden und so die Lautstärke auf ein erträgliches Maß reduzieren kann. Mitreisende, die den Gang zum Hinunterschlendern benutzen wollen, müssen Sie jedoch sofort und ohne Stöhnen oder genervte Blicke passieren lassen. Gespräche über mehrere Sitzreihen hinweg stellen dagegen ein absolutes Tabu dar, egal ob sie im ICE-Wagen mit Handysymbol (für geschäftige Vielschwätzer) oder in dem mit Flüstersymbol (für ruhebedürftige Entspanner) sitzen. Dringende Mitteilungen wie „Liebling, kannst du mir bitte rasch die Fahrkarte und meinen Personalausweis geben? Der Bundesgrenzschutz ist gerade im Begriff, mich mit einem Stoffsack über dem Kopf im Polizeigriff abzuführen“ bilden dabei selbstverständlich eine Ausnahme.
7. Muss ich mich mit meiner Mitfahrgelegenheit unterhalten?
Eines der ungeschriebenen Gesetze der Mitfahrszene verlangt eine gewisse Grundbereitschaft, sich zumindest ein wenig mit den Mitfahrern und vor allem mit dem Fahrzeuglenker zu unterhalten. Die Tasche abzuwerfen, die iPod-Stöpsel zu platzieren und sofort an die Fensterscheibe gelehnt einzupennen gilt als unhöflich und ist Zugpassagieren und Kindern vorbehalten. Wenn Sie es sowohl leid sind, Ihre eigenen hundertfach erzählten Geschichten erneut zu hören als auch die häufig austauschbaren Lebensläufe der meist studentischen Mitinsassen, erfinden Sie doch einfach eine neue Identität! Die Wanderung auf dem schmalen Grat, Geschichten zu erzählen, die den ganzen Wagen in Atem halten und dennoch bedingungslos geglaubt werden, wird Sie derart ablenken, dass die Kilometer nur so dahinfliegen. Nicht statthaft sind natürlich Lügen, die das Leben der Getäuschten beeinflussen, ihnen falsche Hoffnungen machen oder anderen Schaden anrichten. Beispiele dafür sind: „Natürlich betreue ich Ihre Doktorarbeit.“ Oder: „Unbedingt sollten Sie Ihr gesamtes Bafög in folgende Aktien investieren, über die ich als Finanzbroker zufällig Insiderinformationen besitze.“
8. Kann ich eine gelesene Zeitung, die ich ansonsten wegwerfen würde, auf dem S-Bahn-Sitz für den nächsten Fahrgast zurücklassen?
Nein. Denn niemand wird am Ende des Tages sagen: „So, jetzt haben genug Leute dieses wundervolle Druckwerk gelesen und draußen am Bahnsteig verkaufen sie ja schon wieder die Zeitung vom nächsten Tag – also falte ich dieses Exemplar mal sorgsam zusammen und werfe es in den nächsten Papierkorb.“ Stattdessen wird Ihre Zeitung schon nach fünf Minuten zerfleddert am Boden liegen, Menschen mit nassen Schuhen werden darauf herumtreten und sie so in Stücke reißen, und am Ende des Tages muss eine arme Seele im Blaumann die feuchten Dreckklumpen aufsammeln. Wenn Ihre Geste wirklich mehr aus Großzügigkeit denn aus Faulheit gespeist ist, fragen Sie jemanden, der furchtbar gelangweilt und bildungshungrig aussieht, ob er Ihre Zeitung weiterlesen möchte. Falls nicht, entsorgen Sie sie anständig.
9. Darf ich als Mann bei Online-Spielen wie „World of Warcraft“ eine weibliche Figur verkörpern?
Würde man einem männlichen Spieler verbieten, einen weiblichen Charakter anzunehmen (oder umgekehrt einer Spielerin verbieten, als männlicher Krieger durch Online-Welten zu stapfen) würde das bedeuten, dass man in Computerspielen allgemein nur verkörpern darf, was man auch in der Realität ist. Der Markt für Spiele wie „Kopierstau-Boy: Der InsBüro-Geher“ oder “ Wohnung putzen 2: Die Badezimmer-Erweiterung“ ist jedoch überschaubar – aus gutem Grund: Denn Spiele sind dazu da, in Rollen zu schlüpfen, die mit unserer Wirklichkeit wenig gemeinsam haben, die gefährlicher, spannender oder verzauberter sind als das alltägliche Leben zwischen Winterschlussverkauf und Bahnstreik. Angestellte wollen in ihrer Freizeit eben gerne Blutelfen, Piraten oder Weltraumkrieger sein. Wer also in die Rolle eines mittelalterlichen Helden schlüpfen kann, darf sich auch aussuchen, ob er als Ritter oder als Magierin gegen die virtuellen Drachen kämpfen will. Da Online-Spiele im Gegensatz zu virtuellen Partnerbörsen oder Karrierenetzwerken in der Regel nicht dazu dienen, Kontakte in der realen Welt herzustellen, ist die Frage auch nicht unbedingt: Wann muss man sein reales Geschlecht zu erkennen geben? Sondern: Wann darf man überhaupt danach fragen? Denn wenn es nur um das gemeinsame Bestehen von virtuellen Abenteuern geht, sollte das reale Geschlecht der Kampfgefährten im Grunde ebenso egal sein wie ihre Hautfarbe oder ihre Religion.
10. Wie beende ich einen E-Mail-Flirt?
Für diejenigen auf der Suche nach Liebe – oder wenigstens nach kurzfristiger körperlicher Zuneigung – ist der Flirt per Mail ein trügerischer Freund. Schnell ist er begonnen, sei es mit dem netten Kollegen aus der Nachbarabteilung oder mit der klugen Kommilitonin aus der Referatsgruppe. Auch schüchterne Gemüter können aus der Sicherheit der Tastatur heraus zu humoristischer Höchstform auflaufen. Denn ein Mail-Flirt ist etwas herrlich Unverbindliches: Da müssen keine Blicke und Gesten gesetzt oder gedeutet werden – und im Zweifelsfall kann einem niemand böse Absichten unterstellen, es waren ja schließlich „nur ein paar Mails“. Doch nur allzu oft stagnieren Mail-Flirts – selbst wenn sie es auf hohem Charme- und Humorniveau tun. Wie kommt man dann wieder aus ihnen heraus? Zwei Möglichkeiten: Wenn Sie Interesse an der anderen Person haben und die Beziehung vom reinen Antwort-Button-Drücken auf das Parkett des echten Lebens transferieren wollen, bringen Sie – egal ob Sie ein Mann oder eine Frau sind – den Mut auf, genau das zu tun und einen gemeinsamen Restaurant-, Kino- oder Zoobesuch vorzuschlagen. Sollten Sie kein Interesse an einer Romanze, einer Freundschaft oder einer sonst wie gearteten realen Beziehung haben, drücken Sie den Antwort-Button einfach nicht mehr. Für ausschweifende und schnell verletzende Erklärungen und Analysen, wieso man nicht länger Liebenswürdigkeiten-Pingpong spielen will, gibt es noch keinen Bedarf. Ein längeres Schweigen sendet meist genau die richtigen Signale.
11. Darf ich auf dem Spielplatz die Kinder anderer Eltern zurechtweisen, wenn sie gerade nicht aufpassen, was ihr gemeingefährlicher Balg anstellt?
Sie dürfen selbstverständlich eingreifen, wenn Unbekanntes Kind 1 (Leonard) mit einer kleinen Gartenhacke auf Unbekanntes Kind 2 (Lena) zukrabbelt und mit weitem Schwung zum finalen Hieb ausholt. Stoppen Sie Leonard, ohne dabei mehr Gewalt anzuwenden als unbedingt nötig ist, und sagen Sie ihm kurz, dass dies kein angemessenes Verhalten ist. Tiefergehende Erziehungsmaßnahmen von eigenhändig-übers-Knie-Legen bis zu Vorträgen über Gandhis Gewaltverzicht sind unangemessen und obendrein Zeitverschwendung. Denn Sie werden die Erziehung Leonards durch die eigenen Eltern nicht in fünf Minuten umkrempeln können. Jenseits von Gefahrensituationen sollten Sie sich ein anmaßendes Eingreifen deshalb komplett sparen. Wenn Sie wollen, dass Ihr eigenes Kind etwas aus der Situation lernt, sprechen Sie kurz mit ihm darüber und erklären ihm, dass der Junge, der da drüben in hohem Bogen in ein Sandförmchen pinkelt, kein gutes Vorbild darstellt und sich irgendwann für sein Tun schämen wird.
12. Muss ich beim Betreten eines Umkleideraums – zum Beispiel im Fitnessstudio oder im Hallenbad – grüßen?
Nein, Sie müssen ja schließlich auch nicht grüßen, wenn Sie einen S-Bahn-Waggon betreten. Zu einer angemessenen und freundlichen Geste kann eine Begrüßung werden, wenn Sie so regelmäßig dem Sport oder Saunabesuch frönen, dass Sie jede Woche zur selben Zeit dieselben Gesichter im Umkleideraum treffen. Selbst dann bleibt der Gruß aber Ihre eigene Entscheidung.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: Tagesspiegel