Wer ist der Mann, der mit riesigen Vorschusslorbeeren vom Hamburger Thalia-Theater zur neuen Spielzeit ans Deutsche Theater nach Berlin wechselt? Ein Gespräch mit Intendant Ulrich Khuon über die fehlende Offenheit der Theaterwelt, Fußball und sein Wunschpublikum.
Herr Khuon, welche Rolle spielt eigentlich die Stadt, in der sich ein Theater befindet, für ein Theater?
Sie spielt eine Rolle, aber ich wohne jetzt seit drei Wochen hier in Berlin, ich entwickle langsam erst ein Gefühl für diese Stadt.
Und dem Vorwurf, Sie würden am DT einfach mit dem weitermachen, womit sie in Hamburg am Thalia aufgehört haben, begegnen Sie mit Gelassenheit?
Ja. Und ich finde es auch völlig absurd, wenn ich nichts vom Thalia-Theater mitbringen würde. Gleichzeitig beginne ich aber jetzt damit, in die Stadt reinzuhören.
In Hamburg hat dieses Reinhören sehr gut geklappt: Sie holten immer wieder die Stadt zu sich ins Theater. Zum Beispiel arbeiteten Sie mit den Fans des Fußballvereins HSV.
In Berlin werden wir auch ähnliches versuchen, aber natürlich anders. Mich beschäftigt im Moment sehr die Geschichte Berlins, die Spuren dieser Geschichte. Ich würde gerne diese Spuren von unten offen legen. Beispielsweise wie gehen Maler, Schlosser, Handwerker mit der Stadtgeschichte um?
Inwieweit müssen Sie auf die Geschichte, auf die Tradition des DT aufbauen?
Das DT war zu bestimmten Phasen immer besonders. Und man muss die Geschichte eines Theaters kennen, aber man darf sich nicht von ihr erdrücken lassen. Es gibt hier im Haus einen ganz tollen Archivar, der hat mir Zitate aus den letzten hundert Jahren zusammengestellt. Großartig – aber eben auch ein Schraubstock. Da muss man aufpassen, denn schließlich wollen wir hier etwas entstehen lassen.
Und Sie gehen gleich ein gewisses Risiko ein: Die ersten Premieren sind „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad und „Öl“ von Lukas Bärfuss.
Das stimmt. „Herz der Finsternis“ hat bisher noch niemand versucht. Und „Öl“ entsteht gerade erst, zum Teil bei den Proben. Das ist nicht die Nummer sicher. Das ist ohne Netz und doppelten Boden.
Was sehen Sie selbst als Ihre größte Aufgabe als DT-Intendant?
Ich muss immer wieder feststellen, dass das Theater von jüngeren Menschen zu wenig wahrgenommen wird. Ich glaube, vielen würde es besser gefallen, als sie denken. Aber dazu müssen sie mal kommen.
Woran könnte das liegen?
Daran, dass wir ein Botschaftsproblem haben. Wir kommunizieren in so einer Art Binnenraum, wir finden nicht immer die Sprache, die diesen Raum durchbrechen könnte. Das sind die Theaterleute und die Theaterfreunde und die Theaterkritiker – und die kommunizieren miteinander über einen Code, der manchmal zu hermetisch ist, jedenfalls nicht für 30-Jährige, die lieber ins Kino gehen oder in Clubs. Und dann kommt eben ein eher bürgerlich geprägtes Publikum, das ich natürlich auch mit Unruhe und Bewegung infizieren möchte.
In Berlin entsteht aber nun gerade eine neue Form der Bürgerlichkeit, gerade bei den 30-Jährigen. Die würden vielleicht auch gerne ins Theater gehen. Und dann lesen Sie einen Text von Daniel Kehlmann gegen das Regietheater und denken: Hä? Wenn das alles so kompliziert ist, dann lass ich es doch lieber, denn anscheinend habe ich vom Theater keine Ahnung.
Solche Phantomdiskussionen halte ich für überflüssig. Wieso immer so abstrakt? Über Stücke muss man diskutieren, über Inszenierungen auch, aber doch bitte nicht immer so abstrakt, mit solchen Totschlagargumenten. Ohne Regie geht es doch gar nicht, weder im Theater noch im Kino. Deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, da noch weiter zu diskutieren. Wo führt das denn hin? Wir müssen die Leute zum Theater verführen und wenn sie rauskommen, dann sollen sie sich über das unterhalten, was sie da gesehen haben.
Nehmen wir „Herz der Finsternis“. Kann man da reingehen, ohne jemals das Buch von Joseph Conrad gelesen zu haben, und vor allem: Kann man da wieder rausgehen und sich drüber unterhalten?
Absolut. Das ist ein gutes Beispiel, nehmen Sie „Apocalypse Now“, die Verfilmung von Conrads Buch. Wer mehr über Regisseur Coppola weiß, oder das „Making of“ gesehen hat, der wird an dem Film auch mehr Spaß haben. Aber als Film funktioniert der ganz direkt. Im Theater ist es genau dasselbe. Un- sere Inszenierung wird auch direkt funktionieren. Vielleicht kann man diese Art Theater eher mit Autorenkino vergleichen, obwohl wir natürlich auch Blockbuster haben.
Und Sie haben Stars wie Nina Hoss, Corinna Harfouch und Ulrich Matthes.
Wenn Stars nur Stars sind, helfen sie einem Theater auch nicht. Das Ensemble muss sich verknüpfen wollen. Als Zuschauer spürt man es, wenn die da oben auf der Bühne mitei- nander spielen wollen. Das merkt auch der Spontanzuschauer. Deshalb kaufe ich ungern einen Star ein, nur weil er einen Namen hat. Bei Hoss, Harfouch oder Matthes ist das anders, die wollen sich einbringen, die wollen auch eine Kontinuität in der Zusammenarbeit, das ist dann wunderbar.
Sie sagten gerade das Wort Spontanzuschauer. Ist das jemand, der zufällig am DT vorbeigeht und sagt: Ach, ich kauf mir jetzt einfach mal eine Karte?
So spontan geht das wohl nicht. Und eigentlich will ich Beziehungen aufbauen, ich freue mich über jeden, der einmal kommt, aber ich freue mich noch mehr über den, der wieder- kommt, der sich darauf einlässt, was wir hier machen. Im Fußball gibt es ja schließlich auch Dauerkartenbesitzer. Was ich aber nicht will, ist eine Sekte, eine hermetisch abgeschlossene Gruppe, die niemanden von außen rein lässt.
Im Thalia haben Sie auch ein jüngeres Publikum angesprochen, durch Zusatzveranstaltungen zum Beispiel im „Nachtasyl“.
Ja, und diese Zusatzveranstaltungen sind wichtig, denn bei denen streckt man die Fühler aus. Da merkt man dann, wie die Stadt tickt. Das ist für uns interessant, und für das Publikum auch. Aber es muss schon etwas mit uns und mit dem, was wir machen, zu tun haben. Wir dürfen jetzt keine Disco machen, nur um Leute reinzuziehen. Es geht übrigens dabei auch nicht nur um das Publikum, sondern auch darum, Kontakt zu den anderen Künsten aufzubauen, etwa zu Schriftstellern. Es ist doch kein Zufall, dass ein Autor wie Daniel Kehlmann gegen das Theater wettert, der auf das Theater mit großer Distanz schaut – wir setzen auf den Dialog. Deshalb wird es zum Beispiel auch Lesungen mit Maxim Biller, John von Düffel und Georg Diez geben.
Wer zu Lesungen geht, geht nicht unbedingt auch zu einer Kleist-Aufführung.
Das stimmt. Aber wenn er inhaltlich angesprochen ist und sich im DT wohl fühlt, wenn es ihm bei uns gefällt, die Räumlichkeiten, der Service, wenn das Bier schmeckt, und wenn er von allen Mitarbeitern freundlich behandelt wird, dann vielleicht ja doch. Man muss sich eingeladen fühlen, von jedem einzelnen. Freundlichkeit als Haltung – nicht als Marketinggag.
Hilft Freundlichkeit um eine imaginäre Barriere abzubauen?
Das Schlimmste, was wir am Theater machen könnten, ist uns elitär zu geben. So zu tun, als würden wir gar nicht mehr versuchen, dem normalen Mann vermitteln zu wollen, was für Gedanken wir uns machen. Nur weil wir auf der Bühne eine ernsthafte und komplexe Geschichte erzählen, müssen wir nicht herumrennen wie vergeistigte Griesgrame.
Was für ein Publikum wünschen Sie sich für Ihr DT?
Bloß keines, das als DT-Publikum zu erkennen wäre. Ein möglichst vielfältiges, Generationen und Schichten übergreifendes, keine Szene.
Kein Dresscode im DT also?
Wer sich festlich kleiden will, soll das gerne tun – er muss aber auch tolerieren, dass andere in Jeans und T-Shirt dasitzen. Von denen erwarte ich aber umgekehrt dieselbe Toleranz: Nicht jeder, der eine Krawatte trägt, ist ein Kleinbürger.
Ist Berlin für diese Durchmischung ein guter Ort?
Ich denke schon. Wahrscheinlich sogar ein besserer als Hamburg. Dort ist alles viel sortierter. Ich glaube außerdem, dass es eine geheime Sehnsucht der Menschen nach dieser Durchmischung gibt. Die wünschen sich eigentlich einen Ort, an dem sie mal mit anderen Kreisen als ihren eigenen konfrontiert werden.
Wir führen dieses Gespräch unmittelbar nach der Sommerpause, vor drei Wochen sind Sie endgültig nach Berlin gezogen. Wohin?
In die obere Ecke von Prenzlauer Berg, Richtung Pankow, die gefällt mir gut. Dort ist es sehr lebendig und gleichzeitig unaufgeregt, angenehm entspannt.
Haben Sie sich wie fast jeder, der nach Berlin zieht, lange und quälend darüber Gedanken gemacht, welche Ecke es sein soll?
Ich habe mir zum ersten Mal mehr Gedanken darüber ge macht. Früher war mir eher die ruhige Lage wichtig. Hier wollte ich an einen Ort, an dem man am Leben teilnimmt – und da meine Tochter hier studiert hat, kannte ich die Stadt und ihre Viertel schon ein wenig. Kurzzeitig war auch Kreuzberg eine Überlegung, aber so kann ich schneller mit dem Rad ins Theater fahren.
Kränken Sie die „Schwaben raus!“-Grafittis mit denen in Prenzlauer Berg gegen die so genannte Gentrifizierung protestiert wird?
Nein. Erstens kann ich solche Reflexe verstehen. Ist doch klar, dass man eher zu drastischen Mitteln greift, wenn man sich derart überfallen vorkommt. Und zweitens komme ich ja aus dem Badischen.
Pardon…
Die meisten schmeißen das aber in einen Topf, deshalb bin ich es gewöhnt, dass meinen Volksstamm nicht überall grenzenlose Liebe entgegenschlägt. Vielleicht habe ich auch deshalb gelernt, die Leute persönlich zu erobern. Meinen alemannischen Dialekt beispielsweise habe ich nie verleugnet.
Welches Berliner Theater macht eigentlich die besten Partys?
Das Gorki. Da passen die Partys immer irgendwie zum Programm, die haben hinten einen schönen Garten, tolle offene Räumlichkeiten – das ist kein so geschützter abgeschlossener Raum. Das wünsche ich mir hier auch. Ich kannte mal einen Intendanten, der nach den Premieren einen erlauchten Kreis um sich versammelt hat um Champagner zu trinken. An so etwas habe ich weniger Interesse.
Sie haben Ihre Laufbahn in Konstanz begonnen – ist jetzt mit der Ankunft in Berlin Ihr Ziel erreicht?
Im Nachhinein wirkt die Reihe Konstanz – Hannover – Hamburg – Berlin wie eine sehr geradlinige und logische Karriere. Aber ich bin eigentlich ans Theater gegangen, um eben nicht Karriere machen zu müssen. Das Ziel war für mich komischerweise immer erreicht, egal wo ich war. Mir war natürlich klar, dass ich nicht mein Leben lang in Konstanz am Stadttheater sein würde. Aber ich hatte immer den Eindruck, dort das tun zu können, was ich tun muss und will. Man darf nicht den Fehler machen, zu denken, dass die Menschen in Konstanz weniger nachdenklich sind als die in Hamburg. Ich hatte sogar manchmal den Eindruck, dass man dort nach einiger Zeit für innovative Akzente empfänglicher war als in den vermeintlich liberalen Großstädten.
Neben Ihrem Umzug hat es vor dieser Spielzeit wieder eine Reihe von Intendantenwechseln gegeben. Meist nehmen die ein Heer von Regisseuren, Dramaturgen und Schauspielern mit – in diesem Ausmaß in kaum einer anderen Branche denkbar. Woher kommt diese Form von Gruppenbildung im Theater?
Da gibt es sehr unterschiedliche und unterschiedlich enge Gruppen. Bei uns glaube ich, war es so, dass wir etwas gemeinsam gefunden und geprägt haben – und gleichzeitig gemerkt haben, dass wir uns darauf nicht ausruhen dürfen, sondern gemeinsam weitermachen wollen. Mir ist so etwas sehr wichtig. Ich bin ein Freund von unruhigen, aber verlässlichen Beziehungen. Man darf nicht bequem werden, aber ich mag es, wenn man viel vom anderen weiß.
Sie bringen ein großes Team aus Hamburg mit, gleichzeitig hat das DT eine starke eigene Tradition. Wie schwierig ist es für Sie als Intendant nun, diese zwei Welten zusammenzubringen?
Das ist schon eine Herausforderung und ich denke, wir müssen uns bemühen uns hier wirklich zu begegnen und nicht nur in den jeweiligen Gruppen nebeneinanderher zu leben. Für mich persönlich ist natürlich die Aufgabe, für alle gleichermaßen da zu sein.
Sie haben im Gespräch schon mehrmals Fußballanalogien verwendet. Haben Sie einen Verein?
Den VFB Stuttgart – aus biographischen Gründen. Man bleibt dem Verein, den man als Kind geliebt hat, ja immer verbunden. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Vater in Konstanz jeden Samstag ab halb vier vor dem Radio saß. Um 18 Uhr sind wir dann zu Bekannten gegangen, die einen Fernseher hatten. Aber wir sind nur rüber und haben geklopft, wenn der VFB gewonnen hatte. Sonst nicht.
Und zu wem sind Sie in Ihrer Hamburger Zeit ins Stadion gegangen – zum HSV oder zu St. Pauli?
Eigentlich sind Theaterleute ja traditionell Paulifans. Aber das ist schon wieder ein derartiges Klischee, dass ich da keine Lust drauf hatte. Der HSV spielt auch den besseren Fußball – also war ich öfter dort.
Haben Sie Ihre Sympathien schon zwischen der Hertha und Union vergeben?
Hertha ist ja ein Verein, der es einem schwer macht, ihn zu lieben. Der hat so wenig Klima – eigentlich vergleichbar mit dem HSV. Union hat mehr Atmosphäre. Ich werde mir beides mal anschauen.
Ulrich Khuon – Biografie:
Geboren 1951 in Stuttgart. Studium an der Universität Freiburg von 1970–1979. Staatsexamen in Jura, Germanistik und Theologie. Ab 1977 arbeitete er zunächst als Theater- und Literaturkritiker bei der Badischen Zeitung. Seine Theaterarbeit begann 1980 als Chefdramaturg und ab 1988 als Intendant am Stadttheater Konstanz. Mit Beginn der Spielzeit 2000/01 wechselte er als Intendant an das Thalia Theater Hamburg. Während seiner Intendanz wurde das Thalia Theater zweimal Theater des Jahres. Ulrich Khuon ist seit 2002 Vorsitzen- der des Ausschusses für künstlerische Fragen im Deutschen Bühnenverein. 2008 wurde er in den Senat der Deutschen Nationalstiftung und in den Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels berufen. Ab September 2009 ist Ulrich Khuon Intendant des Deutschen Theaters Berlin.
Interview: Matthias Kalle & Christoph Koch
Erschienen in: DT Magazin
Anmerkung: Das Interview erschien im DT Magazin, das ich zusammen mit Matthias Kalle im Auftrag des Deutschen Theaters (und somit auch des Interviewpartners) konzipiert und redaktionell betreut habe.