Hier gibt es Nachhilfe der dritten Art: Hinter Läden für Piratenaugenklappen, Mammutzähnen oder Gedankenlesepulver lernen Schüler, betreut von Freiwilligen aus der Nachbarschaft – in Brooklyn zum Beispiel.
Bitte lassen Sie sich helfen, wenn Sie etwas aus den oberen Regalen haben wollen“, mahnt ein Schild, „Schweben und ausfahrbare Gliedmaßen verboten.“ Auf einem anderen wird darauf hingewiesen, dass es keinen Gruppenrabatt für Alter Egos und zweiköpfige Mutanten gibt. Ein drittes verkündet kleinlaut: „Der Landeplatz auf dem Dach ist derzeit geschlossen.“ In den Regalen: Saugnäpfe zum Wändehochklettern, Fläschchen mit Wahrheitsserum, einige Dosen Gedankenlesepulver und ein großer Vorrat an Antimaterie. Alles, was der Superheld von heute so braucht.
In Brooklyns Fifth Avenue, zwischen einem Blumengeschäft und einem Laden für Klimaanlagen, hat sich die „Superhero Supply Company“ niedergelassen. Ein Laden, der auf den ersten Blick wie eine Filmkulisse wirkt, die morgen wieder abgebaut wird. Doch der Laden ist echt (die angebotenen Pulver und Materien eher weniger), es gibt einen Verkäufer, und wenn man etwas gefunden hat, das man kaufen möchte, steigt er eine Treppe hinauf in eine kleine Kommandozentrale. Erstmalige Besucher werden informiert, dass sie hier nur einkaufen können, wenn sie einen Schwur leisten. „Muss ich wirklich?“, fragt eine Frau, die gerade ein paar rote Handschuhe und Strumpfhosen aus der hauseigenen „Mt. Fortress Superhero Apparel“-Kollektion ausgesucht hat. Der Verkäufer kennt kein Erbarmen. „Ich“, die Frau sagt etwas befangen, aber für alle hörbar ihren echten Namen, „auch bekannt als…“, sie kichert, „Wonder Woman, gelobe hiermit meine Superkräfte stets für das Gute einzusetzen. Ich werde die hier erworbenen Waren nur zur Sicherheit und im Namen der Gerechtigkeit einsetzen.“
„Sehr gut“, lobt der Verkäufer, legt die Ware und das Wechselgeld in einen kleinen Elektroaufzug und klettert wieder aus der Kommandozentrale herunter. „Wenn Sie auch noch ein Cape kaufen wollen“, bietet er an, „haben wir hier drei Ventilatoren installiert, mit denen Sie prüfen können, ob es auch richtig flattert.“ Noch bevor die Kundin antworten kann, fliegt die Ladentür auf. Herein stürzt aber nicht etwa ein Schurke, der die Weltherrschaft an sich reißen will, sondern eine Gruppe Schulkinder. Aufgeregt laufen sie durch den Laden, ziehen an einem der Regale, das sich tatsächlich wie eine Geheimtür öffnet und den Blick auf einen großen Arbeitsraum voller Schreibtische und Computer freigibt. „Ach das? Das ist unsere Schreibwerkstatt“, sagt der Verkäufer auf die verwunderten Blicke der Kundin hin und zuckt mit den Achseln, als gäbe es nichts Normaleres auf der Welt.
Seit fünf Jahren gibt es 826NYC inzwischen. So lautet der offizielle Name jener liebenswert getarnten Einrichtung, die Schülern – vor allem solchen aus sozial schwachen Familien – Hausaufgabenhilfe bietet, sie mit Workshops zum Schreiben animiert und sogar schon zahlreiche Bücher mit Kurzgeschichten und Essays von Schülern veröffentlicht hat. Eine Liebe zur Sprache soll den Kindern vermittelt werden, ohne das drückende Korsett einer Schule, sondern in einer Umgebung, die Fantasie und Kreativität befeuert. Angeleitet werden sie dabei von Freiwilligen, viele davon Schriftsteller, Journalisten, freie Werbetexter, Doktoranden und andere Wortarbeiter. Denn von denen gibt es im Viertel reichlich.
Früher, in den 50er und 60er Jahren, wohnten im Brooklyner Stadtteil Park Slope vor allem italienische und irische Einwanderer der Arbeiterklasse. In den 70ern wurden sie langsam von den Schwarzen und Latinos abgelöst, gleichzeitig entdeckten die Hippies das Viertel für sich. Sie zogen in die günstigen und leicht heruntergekommenen Victorian Brownstones, die typischen Reihenhäuser aus rotbraunem Sandstein und renovierten sie sich für ihre Wohngemeinschaften. Lange Zeit war Park Slope auch als das Viertel mit der höchsten Lesbendichte bekannt, später das mit der höchsten Schriftstellerdichte: Jonathan Safran Foer lebt hier ebenso wie Jonathan Lethem, Paul Auster und Siri Hustvedt.
Die Zeiten, in denen Aussteiger und Einwanderer einträchtig auf den Stufen der Außentreppen ihrer Brownstones saßen, sind vorbei. Heute ist Park Slope so etwas wie der Prenzlauer Berg von New York. Die Mieten sind nur noch geringfügig niedriger als jenseits des East River in Manhattan, die Avantgarde mokiert sich in Blogs über „hasserfüllte Englischlehrer“ und „Stroller Moms“. Diese Mittelschichtmütter liefern sich derzeit erbitterte Schlachten mit Café- und Barbesitzern, die immer öfter Kinderwagenverbote aussprechen – und dafür oft mit Klagen wegen Lärmbelästigung bestraft werden.
Matt Ufford wohnt ebenfalls in Park Slope, „auch wenn ich nicht mehr weiß, wie lange ich mir das noch leisten kann“. Er betreibt ein Sportblog und arbeitet seit einigen Jahren ehrenamtlich bei 826NYC, wie inzwischen rund 1000 andere Freiwillige. Früher war er auch Tutor, inzwischen organisiert er regelmäßig Lesungen. Aber das Größte ist es für den 31-Jährigen nach wie vor, mit den Kindern zu arbeiten: „Nach zwei Stunden ist man meist ganz schön erledigt. Aber es lohnt sich immer.“
Auch Dave Eggers, der 39-jährige Kultautor, der diesen Herbst mit zwei Drehbüchern in die Kinos kommt (siehe unten) lebte früher in Park Slope. Hier wurde die Idee zu dem unkonventionellen Lernzentrum geboren. „2000 war ich gerade dabei, mein erstes Buch fertigzustellen“, sagte der interviewscheue Bestsellerautor in einem Vortrag über sein Projekt. „Ich schrieb von Mitternacht bis fünf Uhr morgens und lief tagsüber völlig benommen durch die Gegend. So wie ich lebten viele Autoren, Freiberufler und Kreative im Viertel: mit relativ viel Tagesfreizeit.“ Von seiner Mutter und seiner Schwester, die beide als Lehrerinnen arbeiteten, wusste Eggers, wie frustrierend und mühsam deren Job war, vor allem durch die ständige Unterbesetzung. „Gerade die Schulen mit den Kindern, die es am nötigsten brauchen, sind meist am schlechtesten ausgestattet“, so Eggers. „Gleichzeitig kannte ich diese riesige Gruppe von Autoren, Journalisten, Doktoranden, die flexible Arbeitszeiten hatten und gleichzeitig die Sprache liebten.“
Eggers grübelte lange, wie man beide Gruppen zusammenbringen könnte. Aber erst als er wenig später nach San Francisco zog, fügten sich die Teile zueinander. Sein erstes Buch, „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ (KiWi 9,90 Euro), wurde nicht nur von Kritikern so euphorisch beurteilt, wie es sein Titel nahelegt, sondern auch ein Bestseller. Als Eggers endlich vernünftige Räume für seinen bisher aus seiner Küche operierenden Miniverlag McSweeney’s anmieten konnte, kam ihm die zündende Idee: Warum nicht einen Ort schaffen, an dem vormittags und abends Autoren und Redakteure arbeiten würden – und nachmittags Schulkinder vorbeikämen, um zu lernen, sich bei den Hausaufgaben helfen zu lassen, das freie Schreiben zu üben, ernstgenommen zu werden?
2002 öffnete in San Francisco 826Valencia, benannt nach seiner Adresse im ebenfalls langsam gentrifizierten Castro-Viertel, seine Pforten. Auch hier ist der Raum, in dem gelernt, gelehrt, geschrieben und gelacht wird, im hinteren Teil des Gebäudes versteckt, wie im zwei Jahre später eröffneten New Yorker Ableger 826NYC. Statt eines Superheldenladens hat Eggers in San Francisco jedoch einen Laden für Piratenbedarf eröffnet: Da gibt es Planken (selbstverständlich am laufenden Meter), Maß-Holzbeine sowie Augenklappen, „in schwarz für jeden Tag und in Pastellfarben zum Ausgehen oder für Bar-Mizwas und Hochzeiten“.
Nach dem Ableger in New York gibt es inzwischen auch welche in Seattle, Boston, Los Angeles und Ann Arbor. In Ann Arbor, Michigan, verbirgt sich der Arbeitsraum hinter einem Roboterladen, in Seattle hinter einem Geschäft für Weltraumreisebedarf. Und in Los Angeles finden Besucher des „Time Travel Mart“ im hippen Stadtteil Echo Park, in dem zum Beispiel auch American-Apparel-Gründer Dov Charney lebt, alles nur erdenkliche Zubehör für Zeitreisen: Mammutzähne, Blutegel für eine mittelalterliche Schröpfkur sowie einen Getränkeautomaten mit dem Hinweis „Defekt – bitte kommen sie gestern wieder!“.
In den Läden werden neben den Fantasieprodukten vor allem die Bücher des McSweeney’s-Verlags verkauft: Neben Dave Eggers Bestsellern sind das auch stets Anthologien mit Beiträgen, die die Kinder selbst verfasst haben. „Die Schüler arbeiten hier härter als sie je zuvor in ihrem Leben an etwas gearbeitet haben“, erklärt Dave Eggers den Erfolg von Büchern wie „Waiting To Be Heard“ oder „I Might Get Somewhere“, deren Beiträge ausschließlich von Kindern und Jugendlichen geschrieben wurden. „Weil es Interesse von außen gibt und weil sie wissen, dass ein Buch etwas für die Ewigkeit ist.“
Die Ladengeschäfte sind inzwischen so profitabel, dass sie die komplette Miete der Einrichtung und ihr eigenes Personal einspielen. Gleichzeitig dienen sie als Schnittstelle zu dem Passanten, der draußen vorbeischlendert und sich fragt, was um alles in der Welt das für ein Laden ist, der Zeitreise- oder Piratenbedarf verkauft. Und der anschließend drinnen von der geheimnisvollen Fantasiewelt gefangen genommen wird – und entweder ein Buch kauft oder nächste Woche selbst als freiwilliger Tutor vor der Tür steht.
Die meisten Kinder, die nach der Schule zum „drop-in tutoring“ ohne Anmeldung vorbeikommen, sind zwischen sieben und zehn Jahre alt. Jedes bekommt einen Betreuer zur Seite gestellt, nur für sich allein. „Studien haben gezeigt, dass 35 bis 40 Stunden Einzelunterricht pro Jahr einen Schüler um eine ganze Notenstufe verbessern können“, sagt Eggers in seinem Vortrag. Viele der Schüler, die 826NYC nutzen, kommen aus nicht-englischsprachigen Haushalten, fast alle aus Brooklyn oder der Bronx. Und jeden Nachmittag ist der Raum hinter dem Superheldenladen bis auf den letzten Platz besetzt. Dabei ist das, was dort wartet – Bücher, lernen, Hausaufgaben – doch eigentlich kaum etwas anderes als Schule. Oder etwa doch? „Das Geheimnis ist, dass es kein Stigma gibt“, so Eggers. „Wir nennen es nicht ,Zentrum für lernschwache Kinder, die mehr Hilfe brauchen’ oder so was.“ Die Kinder gehen durch einen Superheldenladen in einen Raum, in dem nur zwei Tische weiter ein etwas älterer Highschool-Schüler an seinem Roman schreibt und in der anderen Ecke einer der Mitarbeiter des McSweeney’s-Verlags an Magazinen oder Büchern arbeitet. Weniger nach Almosen kann sich Nachhilfe kaum anfühlen.
Ungefähr 800 Freiwillige engagieren sich in dem Laden in Brooklyn. Eine Mindeststundenzahl gibt es nicht, niemand muss sich verpflichten, jeden Mittwoch parat zu stehen – selbst wer nur zwei Stunden im Monat Zeit hat, ist willkommen.
Mit den Kindern zu sprechen, die zum Lernen herkommen, ist für Journalisten nahezu unmöglich. Nicht angemeldeten Erwachsenen ist der Zutritt zu den hinteren Räumlichkeiten grundsätzlich verwehrt. Doch selbst, wenn man sich als Journalist anmeldet, möchten die Verantwortlichen des Lernzentrums nicht, dass man die Kinder befragt oder bei der Betreuung zuschaut. Die Schüler sollen zum Lernen und Schreiben herkommen, nicht um Interviews zu geben, so die knappe Begründung. Auf der Webseite des Projekts findet man jedoch den neunjährigen Khaled Hamdan, der in seinen Worten erklärt, wie das alles funktioniert: „Zuhause kann ich mich nicht konzentrieren, weil da der Fernseher und meine Videospiele sind. Hier geht es besser, weil ich hier Tutoren habe, die viele Dinge wissen. Wenn ich meine Hausaufgaben fertig habe, kann ich an meinen Geschichten arbeiten. Die beste Geschichte, die ich je geschrieben habe, ist wahrscheinlich ,Die Abenteuer von Dino Fish’ – weil sie sehr lustig ist. Sie ist schon in zwei Büchern erschienen.“ Der Junge kommt jeden Tag nach der Schule vorbei und hat inzwischen schon drei seiner Cousins mitgebracht.
Matt Ufford, der Sportblogger, hat gerade die Mappen mit den „Sets für neue Identitäten“ geordnet und packt eine Kiste mit Röntgenbrillen aus, während er erklärt, was viele der Helfer in Brooklyn motiviert: „Die meisten von uns haben selbst keine Kinder und durch die Arbeit eröffnet sich einem noch mal diese Perspektive des kindlichen Wunderns. Mit großen Augen staunend durch die Welt zu gehen – das ist ja leider etwas, das man sich als erwachsener New Yorker sehr schnell abgewöhnt.“
Dave Eggers schrieb zusammen mit seiner Frau das Drehbuch des Films „Away We Go“, der gerade im Kino läuft. Für die Verfilmung des legendären Kinderbuchs „Wo die wilden Kerle wohnen“ von Maurice Sendak verfasste er mit Regisseur Spike Jonze das Drehbuch und schrieb die Roman-Adaption „Bei den Wilden Kerlen“, die soeben bei KiWi erschien (18,95 Euro).
Text: Christoph Koch
Erschienen in: Der Tagesspiegel
Fotos: Copyright 2007 Jeffrey O. Gustafson / Creative Commons Attribution ShareAlike Licence