Kein Zuschauer sieht ihn, kaum einer weiß überhaupt, dass es ihn gibt. Dabei laufen am Pult des Inspizienten alle Fäden einer Aufführung zusammen.
19:00 Frank Ulbig, Inspizient am Deutschen Theater in Berlin, schließt sein Pult auf.
Das Inspizientenpult befindet sich direkt am rechten Bühnenrand. Wenn die Schauspieler einen Beutel mit Kunstblut öffnen, ist Ulbig ihnen oft so nah, dass er es riechen kann. Vom Zuschauerraum lässt sich sein kleines Reich dennoch nicht einsehen, ja nicht mal erahnen. Trotzdem laufen genau hier alle Nervenstränge einer Vorführung zusammen.
19:07 Ulbig legt sich den Vorstellungsbericht bereit, der bei der Vorstellung, aber auch bei jeder Probe angefertigt werden muss. Daneben, ungleich dicker, das Inspizientenbuch.
In der dicken Kladde ist nicht nur der komplette Text samt Regieanweisungen vermerkt, der Inspizient trägt sich auch während der gesamten Probe alle für ihn wichtigen Notizen ein. Vom Lichtwechsel über den Zeitpunkt, wann welche Schauspieler aus der Garderobe zu rufen sind, bis zur Häufigkeit und Intensität, mit der die Nebelmaschine zu bedienen ist.
19:30 Inspizient Ulbig holt sich seinen obli gatorischen Tee in einem großen Thermobe cher und stellt ihn ans linke Ende des Pults. Am rechten Ende liegt eine Dose Halsbonbons für ihn, die Schauspieler und jeden, der will. Am Ende der Vorstellung wird sie nahe zu leer sein.
Die Vorbereitungen sind zahlreich und je nach Stück unterschiedlich. Die Blutbeutel für Tino Mewes, der heute in ,Das Goldene Vließ‘ Medeas Bruder spielt, muss bereitgelegt werden. Soundcheck mit der Gitarre, die Komparsenkinder werden noch einmal gefragt: „Wisst ihr noch, ab wann ihr euch bereithalten müsst?“ Am Ende wird, wie vor jeder Vorstellung im ganzen Land jener Vorhang getestet, der hinter der Bühne nur kurz „der Eiserne“ heißt.
20:02 „Die Vorstellung ,Das Goldene Vließ’ im Deutschen Theater hat begonnen“, spricht Ulbig in sein Mikrophon, unhörbar für die Zuschauer. „Ich wünsche uns allen eine schöne Vorstellung.“
Meist anstrengender als die Aufführungen seien die Proben, erklärt Ulbig – kurzhaarig, in Anzugshose und Hemd, eine Silberkette um den Hals. Denn in der Probenzeit ändert sich schließlich ständig noch etwas – da gleicht das Inspizientenbuch oft einem Schlachtfeld aus Durchstreichungen, Klebezetteln, Ausrufezeichen und Symbolen.
20:17 Auf der Bühne hat Alexander Khuon als Jason einen lautstarken Wutausbruch. Ulbig nutzt die Lärmkulisse und signalisiert dem Einlass per Knopfdruck, dass Zuspätkommer jetzt noch schnell reingeschickt werden können.
Inspizient ist kein klassischer Ausbildungsberuf. Die meisten kommen aus anderen Theaterberufen, starke Nerven und hohe Konzentrationsfähigkeit sind entscheidende Voraussetzungen.
20:33 „Halbe Drehung, rechts, auf 40“, weist Ulbig den Bühnenarbeiter an, der die Drehbühne im richtigen Moment in Bewegung setzen muss.
20:48 Jason wechselt im Stück vom Strickpullover ins Hemd, „Herrengarderobe für Herrn Khuon bitte zur Hofseite“ fordert Ulbig über Lautsprecher an.
Der Inspizient ist nicht nur so etwas wie die Vertretung des Regisseurs, der oft genug nach der Premiere nicht mehr anwesend ist, er ist auch das Bindeglied zwischen den Künstlern und den Technikern, muss beiden Seiten gerecht werden, manchmal vermitteln.
20:52 Jason hat einen erneuten Wutausbruch und wirft den Wäscheständer etwas weiter über die Bühne als geplant. Ulbig streckt den Kopf um zu sehen, wo er gelandet ist, ob er die Drehbühne blockiert oder einen Bühnenzugang versperrt. „Alles okay“, nickt er.
21:06 Die erste Seite im Inspizientenbuch ohne Notizen oder Anweisungen
Seit 14 Spielzeiten ist Ulbig (50) inzwischen am DT, vorher arbeitete der gelernte Installationsmechaniker am Dresdner Kulturpalast, zuerst nebenberuflich als Chorsänger, später als Bühnenassistent, schließlich als Inspizient.
21:16 Ulbig schwenkt eine der vier Kameras, die er von seinem Pult aus kontrollieren kann, über das Publikum im Saal: „Gegangen ist jedenfalls noch keiner.“
21:20 Als Jason und die Kinder rausgehen, bleibt das mittlere Bühnentor einen Moment zu lange offen. „Mach das Ding zu“, zischt Ulbig – mehr zu sich selbst als zu dem Verantwortlichen.
In Notfällen – wie bei einem Bühnenunfall oder Feuer – ist der Inspizient derjenige, der mitentscheidet, ob eine Vorstellung unterbrochen oder gar abgebrochen werden muss. Ulbig selbst hatte in 25 Inspizientenjahren „noch keinen einzigen Abbruch – toi, toi, toi.“
21:30 Während Medeas Schlussmonolog versammelt Ulbig alle Schauspieler hinter der Bühne „Noch fünf Minuten bis zum Stückschluss, alle Kollegen bitte zum Schlussapplaus bereithalten.“
21:37 Die Bühne liegt im Dunkeln. Ulbig wartet und gibt dann – „Hau rein!“ – die Anweisung, das Licht zum Schlussapplaus anzuschalten.
Als die Schauspieler sich zieren, noch ein drittes Mal rauszugehen, schickt Ulbig sie mit einem „Ach kommt, seid so lieb, geht, geht, geht! Das Bier gibt’s später“. Über 530 Zuschauer, vier Minuten Applaus, er ist zufrieden.
21:41 „Die Vorstellung ,Das Goldene Vließ’ im Deutschen Theater ist zu Ende. Ich be danke mich bei den Kollegen und wünsche allen einen guten Heimweg.“
Text: Christoph Koch
Erschienen in: DT Magazin