Michael Althen, Filmkritiker, Autor und Regisseur, ist der erste und alleinige Juror der Autorentheatertage Berlin, die vom 8. bis 17. April 2010 im Deutschen Theater stattfinden. Mehr als 150 junge Dramatiker sind seinem Aufruf „Interest Me!“ gefolgt und haben unaufgeführte Stücke eingereicht, aus denen Althen vier auswählen sollte, die in Werkstatt-Inszenierungen vorgestellt werden. Ein Gespräch über die neu entdeckte Freude am Theater, Gemeinsamkeiten von Filmdrehbüchern und Theatertexten – und warum nie wieder Hitler und Gott als Talkshowgäste auf einer Bühne sitzen sollten.
Herr Althen, Sie sind einer von Deutschlands wichtigsten Kinokritikern. Was genau haben Sie eigentlich mit dem Theater zu schaffen?
Erstmal nix.
Wie kam es dann, dass Sie zum alleinigen Juror der Autorentheatertage Berlin wurden?
Das war die Idee von Ulrich Khuon, dem Intendanten des DT. Er versicherte mir, dass er in meinen Texten über das Kino etwas sieht, einen interessanten Blick entdeckt, den man auch einmal auf das Theater werfen könnte. Aber wenn ich sage, dass ich mit dem Theater nichts zu tun habe, so ist das wirklich keine Koketterie. Ich bin jahrzehntelang kaum ins Theater gegangen und entdecke es seit der Jurorenanfrage vor einigen Monaten gerade erst wieder neu für mich – unvoreingenommen und ohne das Vorwissen, das ich beispielsweise beim Film habe.
Im Theater sind Sie also kein Kritiker, sondern ein ganz normaler Gelegenheitsbesucher?
Sozusagen. Ich finde das aber ehrlich gesagt auch ganz erfrischend. Einen Bereich zu haben, in dem man sich erlauben kann, nicht sofort eine feste Meinung zu etwas entwickeln zu müssen. Im Unterschied zu den Kritikerkollegen vom Theater kann ich ohne Erwartungen in eine Vorstellung gehen. Ich setze mich da fröhlich und unbeschwert rein und kenne die meisten Namen nicht. Außerdem stelle ich fest, dass mich eine Aufführung gar nicht als Ganzes überzeugen muss – wie mich beispielsweise als Kinokritiker ein Film in seiner Gesamtheit erreichen muss –, sondern dass es mir reicht, wenn ich am Ende des Abends einzelne Momente mit nach Hause nehmen kann.
Können Sie so einen Moment beschreiben?
Wenn in ,Öl‘ Susanne Wolff von hinten an Nina Hoss herantritt und sagt: „Mach mal deine Augen zu. Was siehst du?“ Das hat so einen Tonfall, so einen Sound! Da denke ich mir: Wow! Hat sich schon gelohnt, der Abend. Das hat eine Direktheit, die ich so im Kino nicht erleben kann – was natürlich auch eine Binsenweisheit ist, schon klar. Aber dennoch stimmt es. Und allein um Theater als Erlebnis und als kulturelle Praxis wiederzuentdecken, hat es sich für mich schon gelohnt, als Juror zugesagt zu haben.
Sie hatten aber auch ein bisschen zu tun: Inzwischen haben Sie über 150 unaufgeführte Stücke gelesen, die von jungen Dramatikern für die Autorentheatertage Berlin eingereicht wurden. Wie sind Sie an die Arbeit herangegangen?
Mit dem Wissen, dass ein Text erst mal immer nur ein Text ist. Egal, ob es sich um ein Theaterstück handelt oder einen Roman oder eine Filmkritik. Es bleibt einem nichts anderes, als den Text als solchen wahrzunehmen und zu bewerten.
Einverstanden. Und was unterscheidet jetzt einen guten Text von einem schlechten Text?
Ein guter Text öffnet einen Raum. Im Idealfall geht beim Lesen etwas in einem auf – was bei einem Theaterstück dann eben ein Bühnenraum wäre, in den man hineinimaginieren kann, was man gerade liest.
Entstehen da bei Ihnen beim Lesen bereits sehr direkte Bilder?
Nein, ich meine das eher abstrakt. Ich sehe da noch keine Aufführung vor mir – das wäre ja auch nicht meine Aufgabe, sondern die des Regisseurs. Es geht eher darum, dass ich es nicht nur mit zwei Stimmen zu tun habe, die sich auf dem Papier abwechseln, sondern dass diese Stimmen einen wie auch immer gearteten Körper bekommen. Dass sie sich einen Raum schaffen.
Unterscheiden sich die Texte, die Sie jetzt gelesen haben, stark von geschriebenen Drehbüchern, mit denen Sie es als Filmkritiker und Regisseur ja auch immer wieder zu tun haben?
Ich bin wirklich kein großer Freund des Lesens von Drehbüchern. Ich empfinde das meist als eine enttäuschende Erfahrung. Was das eigentliche Können ausmacht und auch das, was mich als Kritiker begeistert, findet in der Regel erst danach statt.
Man kann also nicht an einem Drehbuch die spätere Güte eines Filmes ablesen oder erahnen?
Drehbücher – oder auch Theatertexte – sind immer nur Wechsel auf eine ungewisse Zukunft. Natürlich muss man anfangs von dem geschriebenen Text ausgehen – man hat ja nichts anderes. Und natürlich gibt es auch Leute, die durch ihren Beruf eine gewisse Routine erlangt haben, zu benennen, was an einem Stück oder Drehbuch funktionieren könnte und was nicht. Aber am Ende kann aus einen starken Drehbuch ein schwacher Film werden. Umgekehrt allerdings eher nicht.
Wie lange braucht man eigentlich, um über 150 Theaterstücke zu lesen?
Fragen Sie nicht! Der Zeitrahmen zwischen Einsendeschluss und meiner Entscheidung war nicht sehr lang, ich habe mir also einige Wochen lang die Nächte um die Ohren geschlagen. Ich hatte leider auch ein wenig Pech, denn von den ersten 50 Stücken, die ich las, begeisterte mich keines so richtig. Wir rechneten mit 100 Einsendungen und ich bekam allmählich Angst, dass in der zweiten Hälfte nichts dabei wäre. Aber wie es im Leben halt oft ist: Die besten Sachen kommen auf den letzten Drücker.
Gab es wiederkehrende Themen? Sujets, mit denen sich die modernen Dramatiker besonders intensiv beschäftigen?
Richtige Schwerpunktthemen gab es interessanterweise nicht. Natürlich kam immer mal wieder eine Firmenpleite vor oder eine Krise tauchte am Horizont auf. Auch die Klimakatastrophe wurde ab und zu thematisiert. Aber insgesamt war das Spektrum schon sehr vielfältig.
Es ging also auch nicht immer um die Liebe?
Ehrlich gesagt: Mir ging es viel zu selten um die Liebe. Ich hätte eigentlich erwartet, dass mehr Autoren Interesse daran haben, was zwischen Mann und Frau passiert. Denn das ist doch der Kern von allem, um den alles kreist.
Was hat am meisten genervt?
Es gibt einen sehr unseligen Hang zum Parodieren von Fernsehtalkshows. Aber wenn es etwas gibt, das keine Parodie mehr braucht, dann Fernsehtalkshows. Schon ein 1:1-Transkript solcher Sendungen wäre auf der Bühne womöglich ergiebiger, als wenn man versucht, es durch eine Parodie noch zu übersteigern. Da sitzen dann Gott oder Hitler in einer Fernsehtalkshow. Aber die beiden kommen sowieso gerne vor.
Sie wählen als alleiniger Juror vier Stücke aus, die dann tatsächlich auf die Bühne kommen. Ist es ein Segen für einen Juror, keine Kompromisse mit einer Jury machen zu müssen?
Ja, das ist es, in der Tat. Ich kenne das Gegenteil ja von Filmfestivals: Ob es nun Bären oder Palmen sind, da werden am Ende oft Kompromissfilme ausgezeichnet, die allen ganz gut gefallen, aber niemandem so richtig den Atem rauben. Deswegen ist es vielleicht ganz plausibel, nur einen einzigen Juror in die Verantwortung zu nehmen, wenn man eine gewisse Schärfe reinbringen will oder mal einen anderen Blickwinkel haben möchte.
Als Sie in Ihrer Jugend die Liebe zum Film entdeckt haben: War da das Theater so etwas wie der natürliche Feind?
Ja… Soll ich’s weiter ausführen?
Unbedingt!
Das Theater war insofern der Feind, als dass ich als Schüler immer wieder von Deutschlehrern und anderen wohlmeinenden Personen aus meinem Umfeld in viereinhalbstündige Aufführungen in den Münchner Kammerspielen oder dem Residenztheater geschleppt wurde, die den einzigen Vorteil hatten, dass sie manchmal eine Pause hatten, in der man gehen konnte. Vermutlich stellt sich im Rückblick heraus, dass es eine ganz große Zeit dieser beiden Theater war und ich es nur nicht gemerkt habe, weil ich ein doofer Schüler war.
Wie kam es dagegen zu Ihrer großen Liebe zum Kino? Gab es ein Big-Bang-Erlebnis?
Ach, es gab eine ganze Serie von Explosionen – jedes Mal, wenn man sich mit einem Helden identifiziert hat, war es ein Grund mehr, diese Erfahrung zu wiederholen. Andere machen solche Erfahrungen mit Sicherheit im Theater – ich nicht. Aber das war auch ein Grund, warum ich diesem Experiment zugesagt habe: um mich meiner eigenen Ignoranz auszusetzen. Als Filmkritiker bewege ich mich ja auf gesichertem Boden – auch wenn man mit jedem Text aufs Neue ins Schwimmen geraten kann. Aber es ist ein Kontinent, mein Kontinent. Und das Theater ist wie ein offenes Meer, auf das ich jetzt hinausschwimme – auch ganz spannend.
Aber der Rettungsanker in diesem Meer bleibt für Sie die Sprache.
Ja. Am Ende ist es Sound. Am Ende ist alles Sound.
Sie haben vor zehn Jahren für ,jetzt‘, dem legendären Jugendmagazin der ,Süddeutschen Zei tung‘, eine Kolumne über Musikvideos geschrieben. Sind Sie an diese Sache auch mit dem großen Satz von Robert Mitchum herangegangen, den Sie als Motto dieses Autorenwettbewerbs ausge geben haben: If you want my interest…
… interest me! Ja, genau so. Ich habe mir damals aus diesen Bilderfluten des Musikfernsehens schlichtweg Dinge angeschaut, die ich interessant fand. Und es gab ja auch Videos, die mich wirklich umgehauen haben: von Spike Jonze ,Praise You‘ für Fatboy Slim, von Jonathan Glazer ,Rabbit in your Headlights‘ für U.N.K.L.E. und ,Windowlicker‘ von Chris Cunningham für Aphex Twin. Das waren Verstörungen gepackt in vier Minuten, das machte das Medium zu einer Kunstform. Das war neu. Anders.
Ist es das, wonach Sie auch als Filmkritiker immer wieder suchen? Das Neue, das Andere?
Wenn man sich nicht mehr überraschen lässt, ist es vorbei. Aber natürlich gehört zum Kino auch, dass man genau das haben will, was man erwartet. Und da würde ich den Blockbustern vorwerfen, dass die das so selten abliefern. ,Terminator Salvation‘ war eine Enttäuschung, bei der ich nur dachte: humorloser Blick auf die Welt. Anders ist es dann wieder bei ,Avatar‘. Da erwarte ich ein Spektakel, das der Film in 3D aber auch in vollem Umfang abliefert.
Aber als Juror hatten Sie keine Erwartungs haltung?
Nö. Null. Ich hätte ja auch sagen können: Ich möchte bitte nur Stücke, in denen der Papst vorkommt. Oder wo nur Frauen auftreten. Das schien mir aber ein wenig mutwillig, weil es ja auch eine Theatererfahrung vorausgesetzt hätte, die ich so nicht habe. Und die Leseerfahrung hat dann gezeigt, dass man wirklich nie wissen kann, aus welcher Ecke Überraschungen kommen.
Was erwarten Sie von den WerkstattInszenierungen der von Ihnen ausgewählten Texte?
Auch nichts. Da bin ich einfach nur gespannt, wie ein Text, den ich nur gelesen habe, umgesetzt wird. Wie der gespielt wird. Vielleicht darf ich bei den Proben ja zuschauen. Ich würde auch nix sagen.
Merken Sie eigentlich einem Schauspieler an, ob er sein Handwerk im Theater oder beim Film erlernt hat?
So lange es nicht Klaus Maria Brandauer ist, sind die Unterschiede vielleicht nicht so groß. Auch dadurch, dass es im Theater nicht mehr diesen hohen Ton gibt wie vielleicht in den 50er Jahren, wo ja auch das Kino noch sehr stark von dieser Sprache geprägt war, die nicht von der Straße kam, sondern von der Bühne. Sie merken: Wir sind schon wieder beim Sound.
Gibt es eigentlich großartige Texte, die gesprochen überhaupt nicht funktionieren?
Keine Ahnung. Aber ich würde sagen: Da bin ich grad dabei, das herauszufinden.
Michael Althen, geboren 1962 in München, ist Filmkritiker. Er arbeitete seit seinem 19. Lebensjahr als freier Autor für verschiedene Publikationen, vor allem für die Süddeutsche Zeitung, bei der er 1998 Redakteur wurde. Seit 2001 ist er Redakteur bei der FAZ mit Sitz in Berlin. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Althen hat sich mit sensiblen, mitunter schwärmerischen, Kritiken, Essays und Büchern zu Filmkunst und Filmgeschichte eine führende Position im deutschen Film-Journalismus erarbeitet. Für seinen Filmessay ,Denk ich an Deutschland – Das Wispern im Berg der Dinge‘ erhielt er zusammen mit dem Regisseur Dominik Graf 1999 den Adolf-Grimme-Preis. Ebenfalls mit Graf drehte er 2000 eine filmische Liebeserklärung an seine Heimatstadt (,München – Geheimnisse einer Stadt‘). 2008 feierte auf der Berlinale die Dokumentation ,Auge in Auge – Eine deutsche Filmgeschichte‘ Premiere, bei der er zusammen mit Hans Helmut Prinzler Regie geführt hat.
Interview: Matthias Kalle und Christoph Koch
Erschienen in: DT Magazin