Von wegen Gammelfleisch, Haare in der Nudelsuppe und übellaunige Kellner: Die größte Gefahr beim Auswärtsessen lauert auf der Speisekarte. William Poundstone erklärt, wie wir im Restaurant manipuliert werden.
Ich habe Hunger und will nach dem Interview essen gehen. Wie lasse ich mich nicht über den Tisch ziehen?
Ein wichtiger Grundsatz ist, dass es dem Gast möglichst schwerfallen soll, Preise zu vergleichen. Wer leicht vergleichen kann, entscheidet sich rational – und das ist schlecht fürs Geschäft. Vor allem im Restaurantbusiness, wo die Margen gering sind.
Wie verhindern Restaurants das Vergleichen?
Zum Beispiel, indem ein Restaurant die Preise nicht in einer Spalte untereinander schreibt, sondern in blumigen Essensbeschreibungen versteckt, die sich über mehrere Zeilen erstrecken. Wenn lang und breit das »traditionelle Familienrezept« beschworen wird, ist die geheime Message: Denken Sie ans Essen, vergessen Sie die Preise! Das ist auch der Grund, warum statt »17,00 Euro« oft nur noch »17« dasteht: Das soll unsere Hemmschwelle senken, aufs Geld zu achten. Manchmal, wenn der Kellner spezielle Tagesgerichte empfiehlt, wird der Preis gar nicht mehr genannt.
Was ist mit diesen altmodischen Tafeln, auf die gemütliche kleine Restaurants ihre Gerichte schreiben?
Handgeschriebene Karten oder solche Tafeln lassen das Essen automatisch hochwertiger, die Zutaten handverlesener erscheinen – egal, ob das stimmt oder nicht. Man sollte auch vorsichtig sein, wenn bestimmte Gerichte auf solchen Tafeln besonders empfohlen oder in einem auffälligen Rahmen auf der Speisekarte beworben werden.
Warum? Verdient ein Restaurant nicht an jedem Gericht, das es verkauft?
Doch, aber nicht an jedem gleich viel. Es gibt Stars, Puzzles, Ackergäule und Hunde.
Sie ahnen es sicher schon: Hä?
Stars sind Gerichte, die beliebt sind und an denen das Restaurant gut verdient, weil die Gäste bereit sind, deutlich mehr zu bezahlen, als die Zubereitung kostet. Puzzles sind Speisen, an denen das Restaurant gut verdient, die aber selten bestellt werden. Ackergäule sind das Gegenteil: sehr gefragt, aber kaum profitabel. Und Hunde sind weder bei den Gästen noch bei dem Besitzer beliebt – sie werden kaum bestellt und werfen wenig ab.
Was wäre ein Beispiel für ein Puzzle?
Die Käseauswahl oder Kaviar zum Beispiel. Daran verdient ein Restaurant gut, aber sie werden nicht oft bestellt. Also muss man solche Puzzles zu Stars zu machen, etwa indem man sie mit Extra kärtchen auf dem Tisch bewirbt oder ihnen ein Bild in der Speisekarte spendiert. Steaks sind typische Stars, beliebt bei den Gästen, die außerdem dazu bereit sind, etwas mehr zu bezahlen. Weglocken muss man die Gäste von den Ackergäulen, indem man sie auf der Karte versteckt. In einem Restaurant, das Steaks anbietet, wären Burger zum Beispiel klassische Ackergäule – beliebt, aber nicht sehr profitabel.
Warum lässt man sie nicht ganz weg?
Weil manche Familie vielleicht genau deshalb kommt, weil der Vater dieses eine Gericht liebt. »Hunde« – selten bestellt und wenig einträglich – bleiben meistens auf der Karte, weil der Koch sie liebt.
Welche anderen Tricks gibt es?
Wechselnde Tages- und Wochenkarten min – dern ebenfalls die Vergleichbarkeit. Wenn es immer etwas anderes gibt, kann niemand sagen: »Das war letzte Woche aber noch nicht so teuer.« So funktioniert auch das Weihnachtsspecial im Edelrestaurant.
Wochenkarten sorgen aber auch dafür, dass das Restaurant frische und saisonale Zutaten anbietet und besser kalkulieren kann.
Theoretisch ja, aber die verschiedenen Sonderwochen bei Burgerketten haben zum Beispiel nichts mit Saisonwaren zu tun. Fast-Food- Läden, aber auch viele andere Restaurants, bieten außerdem Menüs und Kombis an – wenn wir nicht wissen, was die einzelnen Bestandteile des Menüs kosten, können wir sie auch schlechter vergleichen. Außerdem führen solche Kombis auch dazu, dass wir mehr Geld ausgeben.
Ich dachte immer, damit spart man Geld.
Wenn Sie zum Beispiel nur einen Burger und eine Cola wollen und dann trotzdem das Menü mit den Pommes nehmen, bezahlen Sie mehr, als Sie nur für Burger und Cola bezahlt hätten. Klar, Sie bekommen die Pommes für einen sehr günstigen Aufpreis obendrauf – aber die wollten Sie ja gar nicht.
Zurück zu den Speisekarten: Funktionieren so billige Tricks wie Bilder oder Rahmen wirklich?
Und ob! Es kann schon reichen, ein paar Gerichte in einer größeren Schriftart zu drucken als andere, und sie werden häufiger bestellt.
Bei manchen Speisen wie Risotto oder Kaiserschmarrn wird in den Karten oft auf etwas längere Zubereitungszeiten hingewiesen. Warum?
Oft dauern die »normalen« Gericht genauso lang. Aber ein Zusatz, »Bitte erlauben Sie uns eine Zubereitungszeit von einer halben Stunde«, wertet das Gericht zu einem Ereignis auf – dann muss es ja extrem frisch sein.
Ist das teuerste Gericht auf der Karte – oft ja ein Filetsteak, das wirklich hochwertige Zutaten erfordert – immer ein schlechter Deal?
Die einzige Aufgabe dieses Gerichts ist eigentlich: alle anderen Preise vernünftig und günstig wirken zu lassen. Selbst wenn auch diese überzogen sind.
Und das funktioniert?
Wenn wir in einen dunklen Raum kommen, können wir erst nach einiger Zeit gut sehen. Wenn wir von Lärm umgeben sind, blenden wir ihn nach einer Weile aus. Und wenn wir einen hohen Preis sehen, gewöhnen wir uns auch daran.
Dass ein 25-Euro-Käsebrot überteuert ist, erkenne ich aber auch, wenn es neben einem Steak für 35 Euro steht.
Vielleicht nehmen Sie aber ein anderes, minimal günstigeres Steak und denken, Sie hätten ein Schnäppchen gemacht. Der Vorgang, der da im Gehirn abläuft, heißt »Anchoring« – weil eine Zahl wie ein Anker wirkt. Es funktioniert sogar, wenn die Zahlen gar keine Bedeutung haben: In einer Studie sollten Probanden schätzen, wie viele Ärzte in einem Telefonbuch eingetragen waren, das vor ihnen lag. Die Kandidaten, deren Aufmerksamkeit vorher auf eine hohe Zahl gelenkt worden war – die aber nicht das Geringste mit der Frage zu tun hatte – gaben eine um 55 Prozent höhere Schätzung ab.
Wann begannen Sie, sich für die Psychologie von Preisschildern zu interessieren?
Ich habe mich schon in vielen anderen Büchern mit dem menschlichen Verstand und vor allem seinen Schwächen beschäftigt. Und sobald es um Preise, also um Geld geht, gibt es einen Anreiz, diese Schwächen auszunutzen.
Und wie kamen Sie ausgerechnet auf die Speisekartentricks?
Was wir zu Mittag essen, ist eine der kleineren Entscheidungen des Lebens. Deshalb grübeln wir kürzer nach als beim Auto- oder Wohnungskauf. Und deshalb ist es so einfach, uns dabei übers Ohr zu hauen. Außer dem erfuhr ich, dass immer mehr Restaurants Berater beauftragen, ihre Preisstrukturen und Speisekarten zu optimieren.
Was passiert, wenn ich mit meiner Freundin essen gehe, und sie schlägt vor, eine gemischte Platte für zwei Personen zu bestellen?
Bei einem Date will man nicht rüberkommen wie ein Geizkragen, deshalb können Sie davon aus gehen, dass die »Meeresfrüchteplatte für zwei« tüchtig überteuert ist. Manche Restaurants drucken auch den Preis pro Person ab und den Hinweis »pro Person« wahnsinnig klein. Aber wer will schon einen romantischen Abend durch einen Zank mit dem Kellner ruinieren, wenn die Rechnung kommt?
Vor der Rechnung werden ja noch Desserts bestellt. Was muss ich da wissen?
Mit Desserts wird eine Menge Geld verdient – allerdings sind viele Gäste zu satt, um noch welche zu essen. Deshalb bieten viele Restaurants winzige Desserts an, die vielleicht nur zwei Euro kosten. Aber der Trick ist, den Gast überhaupt dazu zu bekommen, doch noch eins zu bestellen. Und dann noch einen Espresso.
Stichwort Espresso: Welche Tricks wenden Coffeeshops wie Starbuck’s an?
Ein Phänomen, das sie ausnutzen, ist »Extremeness Aversion«: Menschen entscheiden sich gerne für die Mitte, wenn sie unsicher sind. Auch wer in einem Laden steht, der seine Größen »Tall«, »Grande« und »Venti« nennt, entscheidet sich im Zweifel für die mittlere Variante. Das ist dann aber schon fast ein halber Liter Kaffee. Sie wollen also ganz simpel eine Tasse Kaffee trinken gehen und jetzt haben Sie mindestens zwei gekauft.
Mal ehrlich: Wenn ich Geld sparen will, dann koche ich mir doch Kaffee zu Hause.
(lacht) Sie denken genauso, wie es sich die Restaurants wünschen. Und deswegen ist es so leicht, Kunden wie Sie zu manipulieren.
Genießen Sie denn überhaupt noch einen Restaurantbesuch, wenn Sie eine Stunde die Speisekarte analysieren?
Ich persönlich kann das ganz gut abschalten. Aber seit ich das Buch geschrieben habe, fordern dauernd die Menschen, mit denen ich essen gehe, dass ich die Speisekarte für sie deco diere.
Und können Sie sich nach Ihrem Buch, in dem Sie Restaurantbesitzer ja als geldgeile Trickser outen, überhaupt noch in Ihren Stammrestaurants blicken lassen?
Na klar doch – die Besitzer, mit denen ich vorher schon per Du war, mögen mich immer noch. Manche sogar noch mehr als vorher – weil sie jetzt ein paar Tricks aus meinem Buch anwenden können, die sie vorher noch nicht kannten.
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William Poundstone, 54, lebt in Los Angeles und ist Autor mehrerer Sachbuchbestseller, unter anderem »Die Formel des Glücks: Wie die Mathematik über Las Vegas und die Wall Street triumphierte« und »Im Labyrinth des Denkens. Wenn Logik nicht weiterkommt«. Sein neues Buch »Priceless – The Myth of Fair Value« ist 2010 erschienen und bislang nur auf Englisch erhältlich. Es befasst sich nicht nur mit Speisekarten, sondern ganz allgemein mit der Psychologie der Preise: Wie schafft man es, dass eine Prada-Tasche wie ein Schnäppchen wirkt, und warum bezahlen wir für SMS, obwohl E-Mail umsonst ist?
Interview & Foto: Christoph Koch
Erschienen in: NEON