„Der Trick ist, seiner Zeit zwei Jahre voraus zu sein“ – Interview mit Steven Berlin Johnson über Innovation und Kreativität

Written by on 13/04/2011 in Tagesspiegel with 0 Comments

Ideen entstehen nicht auf Knopfdruck oder auf Konferenzen, sagt Blogger und Schriftsteller Steven B. Johnson – sondern durch Netzwerke und eine „langsame Ahnung“. Außerdem: Warum duschen beim Denken hilft und wie Fehler einen weiterbringen.

Mr. Johnson, auf dem Umschlag Ihres Buches „Where Good Ideas Come From“ sieht man eine stilisierte Glühbirne. Ist dieses Bild Ihren Theorien zufolge nicht völlig falsch?

Da haben Sie recht. Doch wenn es um das Thema Ideen und Kreativität geht, ist die Glühbirne – das Licht, das einem aufgeht – ein Symbol, das sofort verstanden wird.

Und weshalb stimmt es trotzdem nicht?

Weil die allermeisten Erfindungen der Menschheitsgeschichte nicht so entstanden sind, dass jemand Ewigkeiten herumgegrübelt hat und plötzlich …

… Heureka! …

… schoss ihm die Lösung für das Problem in den Sinn und alles war gut. Das hört sich schön an und wird immer wieder gerne erzählt. Solche Erleuchtungsmomente sind extrem selten.

Wie entstehen die guten und wichtigen Ideen stattdessen?

Über einen längeren Zeitraum und durch das, was ich slow hunch nenne, eine langsame Ahnung. Die Idee entsteht bruchstückhaft und manchmal quälend langsam in unseren Hinterköpfen, und wenn sie fertig ist, haben wir manchmal das Gefühl, dass ein einziger Auslöser sie zutage gefördert hat. Doch das reden wir uns nur ein.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Charles Darwin behauptete steif und fest, sein Hauptkonzept der natürlichen Selektion sei ihm genau am 28. September 1838 schlagartig eingefallen, als er einen Essay des britischen Ökonomen Thomas Malthus las. Wenn man aber heute die Notizbücher von Darwin studiert, stellt man fest, dass er alle Bestandteile des Konzepts schon etwa ein Jahr vorher beisammen hatte. Die Idee war also schon in seinem Kopf, aber sie brauchte Zeit zu reifen.

Immerhin gibt er zu, dass ein fremder Text ihm dabei geholfen hat sie einzukreisen.

Das stimmt, einer der größten Mythen, wenn es um Innovation geht, ist, dass Ideen immer nur dem einsamen Genie einfallen, das abgeschottet von der Welt vor sich hingrübelt. Auch das ist in den meisten Fällen Unsinn: Ideen entstehen durch Kollaboration, durch Austausch, durch Diskussion. Es gibt eine interessante Studie der McGill Universität, für die vier führende Labors der Molekularbiologie mit unzähligen Kameras ausgestattet wurden. Diese beobachteten die Mitarbeiter bei jedem Detail ihrer Arbeit. Anschließend wurde ausgewertet, wann eine wichtige Idee oder ein entscheidender Durchbruch stattfand. Das Ergebnis: Innovation entsteht nicht am Mikroskop, sondern am Konferenztisch, am Getränkeautomaten und im Flurgespräch.

Was? Um innovativer zu sein, müssen Firmen also einfach noch viel mehr Meetings und Konferenzen einberufen?

Um Gottes Willen, nein! Ich möchte mein Buch auf keinen Fall als Aufruf zu mehr Meetings verstanden wissen. Ich habe selbst viel zu viel Zeit meines Lebens in welchen verbracht.

Warum sind Konferenzen oft so furchtbar?

Weil sie meist zu strukturiert sind und aus reiner Routine erfolgen. Ideen entstehen, wenn die „langsame Ahnung“ einer Person auf die einer anderen trifft – doch das funktioniert weder in einem einstündigen Abteilungstreffen jeden Donnerstagmorgen noch bei den jährlichen Kreativworkshops, für die manche Firmen in die Berge fahren.

Sondern?

Ich habe selbst drei Firmen mitgegründet und finde die Idee des öffentlichen Vorschlagswesens gut. Statt einen Briefkasten mit Spinnweben drumherum, in den Angestellte Ideen einwerfen können, von denen sie nie wieder etwas hören, werden die Vorschläge online in einem Forum oder Blog gesammelt. Jeder kann die Vorschläge der anderen sehen, kann sie ergänzen, kommentieren, kritisieren und kann mitverfolgen, was aus ihnen wird. Jemand, der eine halbe Idee hat, kann zum Beispiel feststellen, dass jemand anderes die fehlende halbe Idee vor ein paar Monaten bereits dort aufgeschrieben hat.

Keine Geistesblitze, keine einsamen Genies – gibt es andere häufige Missverständnisse über den Ursprung von Innovation?

Wir denken oft, wir brauchen Ruhe und Konzentration, um auf richtig gute Ideen zu kommen. Dabei sind Städte, die uns mit all ihrem Lärm und ihrer Hektik ablenken und wahnsinnig machen können, nachgewiesenermaßen der ideale Nährboden für Ideen. Die Innovationen nehmen mit der Menge an Leuten, die zusammenleben, überproportional zu.

Woran liegt das – außer an der besseren Infrastruktur von Wissen?

Das liegt daran, dass sich Subkulturen erst ab einer gewissen Größe bilden können, und diese ein starker Motor für Kreativität sind. Es liegt aber auch daran, dass wir in einer Stadt ständig mit fremden Einflüssen konfrontiert sind. Das mag unbequem sein, aber es hilft, Neues zu denken. Ideen sind Netzwerke – und gute Ideen sind Kollisionen zwischen unterschiedlichen Perspektiven.

Sie zitieren in Ihrem Buch die Stadtforscherin Jane Jacobs: „Neue Ideen brauchen alte Gebäude.“

In diesem Satz steckt viel Wahrheit: Alte Ideen in Form von etablierten Firmen können es sich leisten, neue Gebäude bauen zu lassen. Wer neue Ideen hat, hat in der Regel erst mal kein Geld und braucht deshalb möglichst billige Flächen. Die gibt es zum Beispiel in alten Fabrikgebäuden und ehemaligen Schlachthöfen in den sogenannten „schlechten“ Stadtvierteln. Diese alten Lagerhallen und Lofts sind nicht nur billiger, sondern auch von ihren räumlichen Gestaltungsmöglichkeiten viel flexibler als die Neubausiedlungen oder Einkaufszentren draußen auf dem Land.

Es mag ja sein, dass Städte und ihr ständiges Durchmischen von Einfällen zu neuer Kreativität führen. Ab und zu braucht man zum Nachdenken seine Ruhe – oder warum sagen so viele Menschen, dass ihnen die besten Ideen unter der Dusche kommen?

Das höre ich tatsächlich oft und kenne es von mir selbst. Die Dusche ist einer der wenigen Orte, an dem wir keinerlei Stimuli ausgesetzt sind: kein Fernseher, kein Computer, kein Smartphone. Das Duschen selbst erfordert keine wirkliche Aufmerksamkeit, und so beginnen unsere Gedanken abzuschweifen. Das ist ein Phänomen: Viele Ideen kommen uns in den Sinn, während wir an etwas ganz anderes denken als an das eigentliche Problem. Deshalb habe ich auch festgestellt, dass Menschen, die überdurchschnittlich innovativ sind, sehr häufig viele Hobbys haben. Dinge, die nur bedingt etwas mit ihrem Beruf zu tun haben und durch die sie trotzdem auf extrem hilfreiche Kombinationen kommen. Nehmen Sie zum Beispiel Tim Berners-Lee …

… der als Erfinder des modernen Internets gilt.

Er hatte nie einen Heureka-Moment. Er hatte nur dieses verrückte Nebenprojekt, mit dem er sich zehn Jahre herumgeschlagen hatte. Berner-Lee wollte zunächst ein System konstruieren, mit dem er seine Forschungsergebnisse speichern und verwalten konnte. Er nannte es „Enquire“, ließ es aber irgendwann ruhen, ebenso wie ein Verzeichnis namens „Tangle“, in dem er seine Arbeitskollegen katalogisieren wollte. Erst im dritten Anlauf gelang ihm ein Netzwerk, das er World Wide Web nannte.

Er baute damit auch auf eine Reihe anderer Erfindungen wie dem militärischen ARPANET und den Hyperlink auf, die jemand anders ersonnen hatte.

Darin stecken zwei weitere wichtige Lektionen. Viele Ideen bauen auf anderen auf und sind selbst wieder Grundstein für Neues. Denken Sie nur daran, wie viele Tausende und Abertausende von Ideen auf Berners-Lees Idee des World Wide Web basieren! Die zweite Lektion ist die, dass kommerzielle Interessen, die immer als so wichtig gelten, wenn es um Innovation geht, gar nicht so oft der Antrieb für bahnbrechende Erfindungen sind. Das Internet entstand aus einer Mischung aus Militärtechnologie, Wissenschaft und dem skurrilen Hobby eines Programmierers.

Mit der Annahme, dass nur durch finanzielle Anreize Innovation entsteht, werden auch ein zeitlich immer längeres Urheberrecht und immer strengere Patentgesetze begründet. Alles Blödsinn?

Teilweise. Ich bin kein radikaler Gegner von Patenten oder Urheberrechten. Doch beides ist in der letzten Zeit außer Kontrolle geraten: Die Zeit, bis beispielsweise ein Werk rechtefrei wird, ist geradezu lächerlich lang geworden. Für echte Innovation ist es wichtig, dass unsere Ideen so frei sind wie nur möglich.

Apple-Chef Steve Jobs selbst hat auf die Frage nach wahrer Innovation den Ratschlag gegeben: „Get rid of the shitty stuff“ – Schmeiße den Schrott raus!

Steve Jobs ist selbst auch ein hervorragendes Beispiel dafür, warum Menschen mit unterschiedlichen Interessen häufiger gute Ideen haben: Jobs hat schon früh sein Studium geschmissen, blieb jedoch als Gasthörer eingeschrieben. So besuchte er eine Vorlesung zum Thema Typografie – sicher nicht, weil er glaubte, das sei nützlich für den Bau von Computern. Und doch wäre der Siegeszug des Apple Macintosh als erster Computer mit verschiedenen Schriftarten ohne solche Seitenstraßen in Jobs Lebenslauf nicht denkbar gewesen.

Ein Beispiel für eine Erfindung, für die die Zeit noch nicht reif war, ist der Computer von Charles Babbage. Was war sein Problem?

Babbage war ein britischer Mathematiker, der zwischen 1820 und 1870 versuchte, einen Computer zu erfinden. Seine Ideen und Grundannahmen waren alle richtig, das Problem war nur, dass er im Zeitalter der Dampfmaschine lebte und seinen Computer deshalb komplett mechanisch konstruierte. Alles bestand aus Rädchen und Rohren und ging dauernd kaputt oder war schlicht zu unpräzise – hätte er Transistoren oder Halbleiter gehabt, hätte er seine Pläne besser umsetzen können.

Ist er also ein Beleg für Ihre These des „adjacent possible“, des „Nächstmöglichen“?

Dieses Konzept stammt ursprünglich von dem Biologen Stuart Kauffman, der damit beschreibt, dass es an jedem Punkt in der Entwicklung eine Reihe von möglichen nächsten Schritten gibt und eine viel größere Zahl von Schritten, die noch nicht möglich sind, sondern es erst durch vorige Schritte werden. Wie in einem riesigen Schloss, das man sich Zimmer für Zimmer erschließt. Anders formuliert: Auch wenn Sie der klügste Mensch der Welt waren, konnten Sie im Jahr 1650 nicht den Mikrowellenherd erfinden.

Ist das auch der Grund, warum in der Geschichte so viele Erfindungen zur beinahe selben Zeit von unterschiedlichen Menschen gemacht wurden?

Ja. Statt jemand wie Babbage, der „seiner Zeit voraus war“, wie man sagt, gibt es den anderen Fall viel häufiger: dass „etwas in der Luft liegt“. Die Batterie, das Telefon, die Dampfmaschine, das Radio – viele Erfindungen wurden mehrfach unabhängig voneinander gemacht. Sauerstoff wurde zum Beispiel innerhalb von zwei Jahren von drei unterschiedlichen Forschern entdeckt.

Seiner Zeit voraus zu sein ist also gar nicht so erstrebenswert?

Der Trick ist, seiner Zeit zwei Jahre voraus zu sein – nicht etwa 50. Andererseits ist es eben auch kaum möglich, seiner Zeit 50 Jahre voraus zu sein, weil man all die Zwischenschritte nicht vorausdenken kann und gar nicht in der Lage ist, abzuschätzen, für welche Probleme man in 50 Jahren Lösungen brauchen wird.

Wie viele Jahre ist Google mit seinem sich selbst steuernden Auto der Zeit voraus?

Vielleicht noch ein paar Jahre zu weit. Aber Google ist als Firma ein sehr interessantes Experiment. Sie versuchen den innovativen Geist einer kleinen Startup-Klitsche in einem erfolgreichen Riesenunternehmen aufrechtzuerhalten. Zum einen durch die bekannte 20-Prozent-Regel, die viele Angestellte verpflichtet, einen von fünf Arbeitstagen mit einem frei gewählten Projekt zu verbringen, der nichts mit ihrem normalen Job zu tun hat. Zum anderen, weil sie ständig neue Dinge ausprobieren, und wenn sie nicht funktionieren, auch wieder wegschmeißen.

Wie beispielsweise den komplizierten Echtzeit-Kommunikationsdienst Google Wave?

Zum Beispiel. Google hat sich aber lobenswerterweise entschieden, die Idee – in diesem Fall den Quellcode – freizugeben, so dass jeder, der möchte, auf diese Idee aufbauen kann. Grundsätzlich ist es gut, so viele Dinge wie möglich zu entwickeln und auszuprobieren, um herauszufinden, was wirklich funktioniert.

„Billig scheitern, schnell scheitern“, wie es das Credo der modernen Internetgründer besagt?

Bei Google waren es vor allem zwei bahnbrechende Ideen, die bis heute für den Erfolg verantwortlich sind: Der Algorithmus berechnet, welche Seiten in der Ergebnisliste oben stehen – und das Auktionsprinzip bei Googles Werbeplattform AdWords. Viele andere Sachen sind Spielereien oder richtiggehende Flops. Das macht nichts, denn Fehler bringen einen ja auch weiter. Man sollte sich zwar nicht in Fehlern suhlen, es bleiben Fehler. Aber man sollte auch nicht vor ihnen davonrennen.

Sie benutzen das Riff als ein Beispiel, wie in einem riesigen Ozean plötzlich an einer bestimmten Stelle unfassbare Artenvielfalt und Kollaborationsmöglichkeiten entstehen. Wo liegen die Riffe unserer modernen Welt?

Das Internet ist vermutlich das beste Beispiel – es hat sich im Vergleich zu anderen technischen Neuerungen unglaublich schnell entwickelt, und es ist eine ständig wachsende Plattform für Zusammenarbeit. Menschen entwickeln Dinge, auf die sofort jemand anders aufbauen kann. Normalerweise muss niemand jemanden um Erlaubnis fragen, wenn er eine Webseite starten oder etwas programmieren möchte.

Das Internet ist riesig – geht es noch ein klein wenig konkreter?

… Twitter ist nicht nur ein gutes Beispiel dafür, wie sich Menschen vernetzen können und wie man immer wieder durch glücklichen Zufall auf neue Inspiration stoßen kann. Die Gründer haben auch das Prinzip von Offenheit verstanden: Sie machen es möglich, dass jeder Benutzer Zusatzfunktionen für den Dienst entwickeln kann. Dazu mussten sie natürlich viele Informationen offenlegen, die Firmen sonst gerne als Betriebsgeheimnis hüten. Das hat den Vorteil, dass es nicht mehr nur die Verantwortung der Firma ist, gute Ideen zu entwickeln – sondern dass Tausende die Plattform besser machen können.

Steven B. Johnson, 42, ist Blogger, Mitgründer von drei Online-Unternehmen und Schriftsteller (z.B. „Interface Culture“ und „Die neue Intelligenz: Warum wir durch Computerspiele und TV klüger werden„). Von ihm kann man lernen, wie man auf gute Ideen kommt – darüber schrieb er seinen letzten Bestseller „Where Good Ideas Come From„. Der Vater dreier Kinder lebt in New York und hat bei Twitter über 1,4 Millionen Follower.

Interview Christoph Koch
Erschienen in: Tagesspiegel
Foto: Nina Subin

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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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