Seine Küche ist sein zweites Zuhause. Im Galopptempo hat Meisterkoch Tim Raue ein eigenes Sternerestaurant in Berlin-Kreuzberg eröffnet. Ein Besuch am Herd.
Der Tresor, den Tim Raue im Keller seines Restaurants in der Berliner Rudi-Dutschke-Straße entdeckte, wiegt zwei Tonnen. Der Koch war ratlos. Die Bank, die vor fast 100 Jahren in dem Gebäude residierte, hatte ihn zurückgelassen. Doch Raue fehlte die Zeit, sich um das Monstrum zu kümmern. Er musste innerhalb von zwei Monaten eine alte Galerie in ein Gourmetrestaurant umbauen. Denn ohne eine Eröffnung im September hätte es keine Chance auf eine Erwähnung im „Guide Michelin“ und „Gault Millau“ gegeben, die im Herbst erscheinen. Und ohne dortige Erwähnung hat ein Gourmetrestaurant keine Chance.
„Sterne sind finanziell wichtig“, erklärt der Berliner bei einem Rundgang durch sein nachmittags noch leeres Restaurant. „Jeder Stern bringt 30 bis 40 Prozent mehr Umsatz.“ Die Auslastung erhöht sich, und die Gäste geben im Schnitt mehr Geld aus – vor allem für Weine, ein Bereich mit oft astronomischen Margen. Raue zeigt auf die Tische aus Walnussholz und die Stühle, die eine Vitra-Neuinterpretation des Eames Chair sind. „Wir haben es rechtzeitig geschafft, alles fertigzukriegen.“ Wir – das sind er und seine Frau Marie-Anne, die gerade am Philippe-Starck-Empfangstisch steht. Den ersehnten Stern haben sie bekommen. Zusätzlich wurden sie als Espoir, also als Hoffnungsträger auf einen zweiten gekennzeichnet. „Ich hänge mir aber solche Sachen nicht an die Wand und hole mir einen drauf runter“, sagt Raue und rückt im Vorbeigehen eine Drachenfigur einen Zentimeter nach links. „Über solche Auszeichnungen nachzudenken kostet mich drei Sekunden – die fehlen mir beim nächsten Teller.“
Bei Raue bekommt fast jeder Gast im Lauf eines Abends acht Gänge serviert – bei 50 Plätzen im Restaurant heißt das, dass in der Rushhour zwischen 20 und 22 Uhr etwa alle 30 Sekunden ein Teller „geschickt“ wird. Dann verwandelt sich die Küche, in der nachmittags entspannt vorbereitet wurde, in ein präzises Uhrwerk. „Viermal Wasserkastanie, zweimal Kalb“, ruft Raue, der von den Nike-Sneakers bis zur Schürze in preußisches Blau gekleidet ist. Manchmal fügt er ein „Bitte“ hinzu. Aber eher selten. „Ja!“, schallt es dafür jedes Mal zurück. Jedes Kommando wird bestätigt. Der Tonfall: präzise, eher kalt, aber nie aggressiv. „Wenn ich einen Koch anschreie, was er sich dabei bloß gedacht hat, ist das eine Frage, die mich nicht weiterbringt.“ Raue widerlegt den Mythos vom Koch als Menschenschinder. „Ich muss stattdessen schnell sagen, was mir nicht gefällt und exakt mitteilen, wie ich es anders haben möchte.“ Seine sieben Köche liefern Raue die Einzelteile seiner Gerichte. Er arrangiert dann vorn an seiner Kommandobrücke die Teller: prüft die Festigkeit des Kabeljaus („Genau so!“), verstreicht Kleckse Erbsenpüree („Mach mir das grüner!“) und zieht Gewürzfenchelspitzen zurecht, bis sie exakt so liegen, wie er sich das denkt. Man kann sich einen Spitzenkoch wie Raue als einen General vorstellen, der seine Truppen in die Schlacht schickt. Oder als einen Trainer, der sein Team zu Höchstleistungen motivieren muss. Dazu gehört auch, für Konzentration zu sorgen: „Wenn einmal Unruhe drin ist, kannst du schreien und toben, Teller an die Wand werfen, es hilft nichts“, sagt Raue und grinst. Er weiß, dass ihn nicht zuletzt seine Berliner Schnauze von Schürzenonkeln wie Johann Lafer oder Alfons Schuhbeck abhebt.
Wenn es um seine Gerichte geht, hört das Imponiergehabe auf: Jeden einzelnen Teller der Porzellanmanufaktur Fürstenberg poliert Raue von Hand, bevor er ihn vorsichtig mit Königslachs, Bisonfleisch oder seiner Variation der Pekingente bestückt. Dabei immer im Blick: eine unbarmherzige Digitaluhr. Darunter, direkt vor Raues Gesicht, hängt eine Reihe von Zetteln. „Captain’s Order“ steht darauf: Es sind die Bestellungen der einzelnen Tische. Die Ankunftszeit der Gäste ist ebenso vermerkt wie ihre Muttersprache, eventuelle Lebensmittelallergien und der Name des Kellners. Hinter die Tischnummer malt Raue manchmal Ausrufezeichen. Ein oder zwei stehen für Geschäftspartner, Freunde des Hauses oder wichtige Lieferanten. Drei Ausrufezeichen bekommt heute nur ein Tisch: Madeleine Jakits, die Chefredakteurin des „Feinschmecker“, hat reserviert. Gäste wie sie entscheiden, ob Raues Restaurant ein Erfolg wird.
Der Druck ist groß: Fast eine Million Büro haben Raue und seine Frau investiert – kein Hotel steht wie sonst üblich zur Seite, keine Investoren schieben an. Der Kredit kommt von der Berliner Volksbank – doch die wollte zehn Prozent Eigenkapital sehen. „Ich habe noch nie im Leben gespart“, sagt Raue. „Also bin ich auf den Fernsehstrich gegangen.“ Er meint die Sat.1- Show“ Deutschlands Meisterkoch“, in deren Jury er saß. „Da verdienst du an einem Tag genauso viel Geld wie ein Küchenchef in einem Monat.“ Die Gage reichte genau, um den Kredit zu bekommen, die Show sieht er als einmaligen Ausflug: „Ich bin kein Fernsehkoch.“ Fakt bleibt: Das Restaurant muss laufen, sonst ist Raue ruiniert.
„Aber es sind unsere Schulden, da redet uns wenigstens keiner rein. Investoren wollen immer mitreden: Die schlagen irgendwann vor, ein Dinnertheater oder so einen Scheiß zu machen“, er schüttelt angewidert den Kopf. „Die Bank will nur ihr Geld sehen – denen ist es egal, ob wir hier halbe Hähnchen verkaufen.“ Es ist 22 Uhr, und in Raues Küche gibt es immer noch Wachteln und Hummer. Zumindest ist es jetzt fast so heiß wie in einem Hähnchengrill. Einer der Köche bearbeitet ein Stück Entenhaut mit 600 Grad heißer Luft; ein anderer rührt abwechselnd in verschiedenen Soßentöpfchen; ein dritter verschwindet fast in einer Dampfwolke, die ihm entgegenschlägt. Der Platz, auf dem sich ein Beobachter aufhalten kann, ohne im Weg zu stehen, ist etwa so groß wie dieses aufgeschlagene Magazin. Und selbst dann muss man zur Seite hechten, wenn der Chef mit Schweiß auf der Stirn nach draußen hetzt, um auch mal ein paar Worte mit den Gästen zu wechseln oder die Verlegerin Angelika Taschen, die nebenan eine Vernissage besucht hat, durch die Räumlichkeiten zu führen.
Direkt neben der Küchentür befindet sich ein schwerer Eichentisch mit handgefertigten Metallintarsien. Hier bekommen bis zu zehn besondere Gäste ein spezielles Menü serviert und erhalten durch eine große Scheibe Einblicke in die Küche, Selbige ließ Raue sich von den spanischen Produzenten Josep Garcia und Joaquim Casademont Maßschneidern, die bereits berühmte Drei-Sterne-Köche wie Ferran Adria („elBulli“) und Pierre Gagnaire ausgerüstet haben. „Bitte fertigmachen und selbstständig schicken!“, weist Raue knapp einen seiner Köche an, schon ist er wieder nach draußen gehuscht. An einem normalen Abend kennt er mindestens die Hälfte seiner Gäste. Und er kümmert sich um sie. Sie sind wichtig. Der Safe aus dem vorigen Jahrhundert ist es nicht. Deshalb hat er es auch aufgegeben, den tonnenschweren Tresor aus seinem Keller verbannen zu wollen, der dem Restaurant als Bar, Raucherlounge und Showküche dient. Er hat das zwei Meter hohe Monstrum einfach goldfarben anstreichen lassen – und zum Blickfang gemacht.
Text: Christoph Koch
Fotos: Moritz Nicolaus Schmid
Erschienen in: GQ