Der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland („Generation X„, „Microserfs„)“ findet Hawaii langweilig, Facebook zu aufregend und Datenschutz irrelevant. Er fragt sich lieber, ob der technologische Fortschritt in einer säkularen oder einer religiösen Welt mündet.
Herr Coupland, Sie prophezeien in einem Artikel, dass die Mittelschicht dem Untergang geweiht ist. Sind Sie wirklich ein solcher Pessimist?
Das war eher eine Rolle, die ich testweise eingenommen habe. Ich wollte herausfinden, wo es hinführt, wenn man alles so pessimistisch wie möglich einschätzt. In den USA und Kanada gibt es die unausgesprochene Verpflichtung, alles positiv zu sehen. So wirklich scheint uns das aber nicht weiterzubringen. Deshalb wollte ich einmal eine andere Taktik ausprobieren. Eine gute Übung, ich kam dabei auf viele gute Ideen. Man darf nur nicht den Fehler machen und alles wörtlich nehmen.
Sie sagen auch voraus: „Alles zu wissen, wird langweilig werden.“ Wie ist das gemeint?
Ich habe mir die Quizshow der Zukunft vorgestellt, in der ein Musikstück angespielt wird und jeder Kandidat plötzlich sein iPhone herausholt, eine Musikerkennungs-App wie „Shazam“ startet und sofort sagen kann, dass das Edvard Grieg ist, gespielt vom Symphonieorchester Cincinnati. Dann stellt die Moderatorin plötzlich Fragen auf ungarisch, aber natürlich haben alle ein Instant-Übersetzungsprogramm in ihren Smartphones. Am Ende gewinnt der, der den schnellsten Prozessor hat und sein Telefon am besten bedienen kann.
Wäre es besser, wenn der gewinnt, der am meisten Fakten auswendig gelernt hat?
Sie haben recht, in gewisser Weise macht das Smartphone alle Menschen gleich. Deutschland hat die höchste iPhone-Dichte auf der Welt. Jeder kann also alles wissen. Aber Allwissenheit ist eben gar nicht so interessant, wie man denkt: Man sitzt zusammen und stellt sich eine interessante Frage, und statt gemeinsam zu überlegen, holt inzwischen fast immer jemand sein Telefon raus und googelt schnell die Antwort.
Trotz ihrer iPhones gelten die Deutschen eher als skeptisch, was neue Technologien betrifft. Sie sind bei Baden-Baden geboren – haben Sie eine Erklärung, woher diese deutsche Skepsis kommt?
Ich habe das auch schon bemerkt. Die Deutschen waren zum Beispiel die einzigen, die sich darüber aufregten, als Autos durch die Straßen fuhren und für Google Streetview Fotos von den Häuserfassaden machten. Ob das einen kulturellen Hintergrund hat? Keine Ahnung. Vielleicht sind viele Deutsche einfach deprimiert? Nein, das glaube ich nicht, im Vergleich zu den Dänen seid Ihr geradezu euphorisch. Andererseits muss man auch erkennen, dass Ihr Deutschen immer alles zuerst habt. Ihr lebt in einer Kultur, die von Forschung und Technik angetrieben wird – es ist also ein bisschen so, als wäre Deutschland eine Art Testlabor.
Ein Labor für die Vernetzung und die Allgegenwart des Smartphones?
Ja, so wie die Teenager, die von Computerspielfirmen drei Dollar pro Stunde bekommen, damit sie deren neue Produkte auf Fehler testen. Die Deutschen sind also so etwas wie die Probespieler für den Rest der Welt. Und bei jeder neuen technischen Entwicklung gibt es zuerst eine Achterbahnfahrt von übertriebener Glorifizierung und ebenso übertriebener Verurteilung. Nach einer Weile haben sich dann alle daran gewöhnt und keiner kann sich mehr daran erinnern, wie das Leben vorher war. Das war beim Buchdruck so, beim Fernsehen und beim Internet – und es wird bei allen weiteren Entwicklungen auch so sein.
Ein deutscher Datenschützer wollte Facebook das Einsammeln von Nutzerdaten auf Internetseiten verbieten.
Solche kurzfristigen Debatten sind in ihrer Irrelevanz geradezu lustig. In ein paar Jahren wird es ein Speichermedium geben, auf dem die Vorlieben jedes Menschen gespeichert sind. Es wird in die Hosentasche passen und in jedem Supermarkt für 79 Cent zu kaufen sein. Das wird so oder so passieren, das ist technologischer Determinismus. Es hat einen gewissen Charme zu glauben, dass man solche Dinge regulieren kann. Es ist so, als hätte man sich in den fünfziger Jahren Gedanken darüber gemacht, wie groß eine Fernsehantenne auf dem Dach sein kann. Das sind Fragen, die sich ganz von selbst erledigen.
Sie sagen das relativ emotionslos.
In den letzten zehn Jahren hat sich so viel verändert – und das meine ich gar nicht in Bezug auf den 11. September 2001. Es wurden einfach so viele bahnbrechende Entwicklungen auf uns losgelassen, dass wir geistig immer noch nicht aufgeholt haben. Das Internet verändert die Politik, das Smartphone verändert unser Zusammenleben. Es wäre interessant, wenn unsere Gesellschaft sich eine einjährige Pause von allen neuen Erfindungen verordnen könnte, damit man erst mal Zeit hat, gesellschaftliche Konventionen für die Entwicklungen der letzten zehn Jahre zu finden. Doch diese Pause kann es natürlich nicht geben.
Wie können wir stattdessen mit diesem Tempo und all den neuen Anforderungen fertigwerden?
Ich habe gerade eine Biografie des kanadischen Kommunikationstheoretikers Marshall McLuhan geschrieben. Ich kannte vorher nur seine beiden Slogans „The medium is the message“ und sein Bild vom „globalen Dorf“. Dann habe ich gemerkt, wie präzise er schon vor 50 Jahren unsere heutige Welt vorhergesehen hat, inklusive Sachen wie eBay, Paypal, Twitter und so weiter. Er sagt, das beste, um mit den Veränderungen durch eine neue Technik klarzukommen, ist wiederkehrende Muster zu erkennen. Als Beispiel verwendet er die Geschichte „Sturz in den Mahlstrom“ von Edgar Allan Poe. Darin überlebt ein Seemann einen gewaltigen Strudel nur, weil er beobachtet, welchem Muster der Strudel folgt. Mein Trick, um heutzutage nicht verrückt zu werden, ist also, nach wiederkehrenden Mustern zu suchen – wie zum Beispiel der Achterbahnfahrt aus Glorifizierung und übertriebener Vorsicht.
Sehnen Sie sich manchmal nach dem Jahr 1991, in dem Sie Ihr Debüt „Generation X“ geschrieben haben und Internet und Smartphones noch weit weg waren?
Nein, um Gottes Willen! Ich möchte nicht in diese Zeit zurückkehren. Rückblickend ist es lustig, wie meine ersten Bücher wahrgenommen wurden. Meine Protagonisten waren immer sehr unideologisch und vorwiegend an Oberfläche, an Popkultur und Konsum interessiert – und viele waren absolut entsetzt über diese Leere. Vor allem für die Linke war ich eine Zeitlang ein absolutes Feindbild. Wenn man „Generation X“ heute liest, kommt es einem beinahe harmlos vor. Ich denke mir oft, ich hätte es viel mehr auf die Spitze treiben können.
Man hat der Jugend immer wieder vorgeworfen, dass sie so ist, wie Sie sie beschreiben: hedonistisch, konsumfixiert, ohne Ideale. In diesem Jahr erleben wir vom arabischen Frühling bis zu Unruhen in England, Spanien und Israel, wie die Jugend in der ganzen Welt auf die Straße geht. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Sie haben einfach uneingeschränkten Zugang zu Informationen und können sich vernetzen. Das kann zu Ergebnissen führen, die wir begrüßen – wie in Ägypten, aber eben auch zu den Blackberry-Riots in England. Die immer schnelleren, einfacheren und billigeren Vernetzungsmöglichkeiten führen zu einer Tribalisierung, zur Bildung von Stämmen. Diese Stämme müssen nicht aggressiv sein, es können auch Leute aus aller Welt sein, die nichts gemeinsam haben, außer sich für Lakritzstangen zu interessieren. Jede Form von Zusammenschluss wird durch die neuen Technologien vereinfacht und verstärkt.
Wohin wird diese Entwicklung führen?
Ich bin sehr neugierig auf die Welt in 100 Jahren, und es nervt mich extrem, dass ich sie nicht mehr erleben werde. Die Frage ist, ob der technologische Fortschritt in einer säkularen oder einer religiösen Welt mündet.
Ihr Tipp?
Das ist noch nicht entschieden. Gerade wenn man denkt, Technologie bedeute Aufklärung, kommen religiöse Fanatiker und kapern diese Technologie. So wie gerade die „birthers“, diese Verschwörungstheoretiker, die anzweifeln, das Barack Obama US-Staatsbürger ist. Was für Idioten! Wir neigen dazu anzunehmen, dass das Internet und andere Technologien automatisch die Demokratie fördern. Doch das stimmt nicht. In manchen Fällen mögen sie das tun – Menschen können Facebook und Twitter nutzen, um einen Aufstand gegen ein totalitäres Regime zu organisieren. Doch dieses Regime kann dieselben Werkzeuge benutzen, um diese Dissidenten zu identifizieren.
Sind Sie bei Facebook angemeldet?
Es war ein bewusster Entschluss, mich dort nicht anzumelden. Ich war mein ganzes Leben noch nie auf Facebook – bis vor genau zwei Tagen. Es war fantastisch!
Was passierte da?
Ich saß mit drei Freunden zusammen, und einer von ihnen wollte es mir zeigen. Also loggte er sich ein und zeigte mir seine Freundesliste. „Da, den kenne ich!“ sagte ich. „Ach, der ist gerade in Urlaub. Oh, der ist ja mit dem anderen Typen befreundet, den ich auch kenne. Das ist ja spannend!“ Mein Kopf fühlte sich kurz so an, als würde er gleich explodieren – es war genauso, wie sich das erste Mal eine Linie Kokain in die Nase zu ziehen. Ich habe in meinem Leben die meisten Drogen gemieden, einfach weil ich weiß, dass sie mir zu gut gefallen würden. Facebook ist dasselbe: Wenn ich mich vorgestern selbst angemeldet hätte, würde ich jetzt immer noch davorsitzen.
Beim Mikrobloggingdienst Twitter sind Sie dafür ab und zu aktiv. Keine Suchtgefahr?
Da schreibe ich ja nur einmal pro Woche was rein.
Ich habe ein paar Ihrer Meldungen mitgebracht. Verraten Sie uns, was da jeweils los war?
Gerne, das klingt interessant.
Vom 12. März gibt es einen solchen Tweet: „Moderne Autos schwimmen wirklich gut.“
Nein, das habe ich nicht geschrieben. Sie müssen sich verlesen haben … Hat jemand mein Twitterkonto gehackt? … Ah, jetzt fällt es mir wieder ein! Das war nach dem Tsunami in Japan. Auch wenn das vielleicht zynisch klingt – ich sah diese Autos wie Eiswürfel im Wasser treiben und mein erster Gedanke war: „Moderne Autos schwimmen wirklich gut.“
Am 3. Juni schrieben Sie: „Man sollte keine Flugtickets kaufen, wenn man betrunken ist!“
Oh ja. Ich hatte betrunken Flugtickets im Internet bestellt und mit dem Datum nicht aufgepasst. Als ich am nächsten Tag umbuchen wollte, ging es natürlich nicht, weil sie so billig gewesen waren.
Waren es Tickets für eine Urlaubsreise?
Ich mache nie Urlaub. Das Konzept von Urlaub bedeutet für mich, dass ich mit meinem normalen Leben unglücklich bin. Das bin ich nicht. Ich finde mein Leben prima. Ich war ein einziges Mal in meinem Leben im Urlaub: fünf Tage auf Hawaii. Ich lag im Pool, man brachte mir Wodka Tonic, und ich fühlte, wie mein Hirn langsam zu Matsch wurde. Es war toll, aber nach fünf Tagen wusste ich, wie sich Urlaub anfühlt und flog wieder nach Hause.
Wie viel Zeit verbringen Sie im Internet?
Ganz unterschiedlich, aber weniger als Sie vermutlich denken. Ich lese zum Beispiel fast keine Blogs.
Sie schreiben mit 50 immer noch über Menschen in ihren Zwanzigern – aber es wirkt immer sehr authentisch. Wo recherchieren Sie?
Mein Buch „The Gum Thief“ spielt in einer Staples-Filiale in Nord-Vancouver. Dieser Laden für Bürobedarf an der Ecke Capilano and Marine Drive ist für mich der langweiligste Ort der Welt, das sehe ich als wissenschaftlich erwiesen an. Die Herausforderung ist also, dort eine spannende Geschichte spielen zu lassen. Aber ich kaufe dort nur meine Druckerpatronen und Büroklammern wie alle anderen auch und sehe mir dabei die Leute an, die dort arbeiten. Doch das Schöne an Romanen ist ja, dass man sich so viel ausdenken kann, man muss gar nicht so viel recherchieren.
Machen Sie sich Notizen?
Ich habe mir 15 Jahre lang sehr akribisch welche gemacht. Möglichst in Druckbuchstaben! Alles, was ich in Schreibschrift schreibe, lese ich später nicht mehr, selbst wenn es der beste Gedanke der Welt ist. Ebenso wenig wie alle Notizen, die ich in mein Handy speichere. Irgendwann habe ich dann jedoch ganz aufgehört, mir Dinge zu notieren.
Warum?
Ich wusste, wie es geht, sich eine Notiz zu machen, also konnte ich mir auch welche ausdenken. Bisher scheint es ganz gut zu funktionieren.
Wie haben sich Ihre Schreibgewohnheiten geändert, seit Sie vor 20 Jahren „Generation X“ geschrieben haben?
Ich war früher eine echte Nachteule und habe alles zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens geschrieben. Vor acht Jahren dann, zack! Jetzt schreibe ich nur morgens – das heißt für mich etwa zwölf Uhr mittags. Dann habe ich zwei Stunden, um etwas hinzukriegen. Wenn es bis dahin nicht passiert, passiert es gar nicht mehr. Nachmittags arbeite ich lieber an meinen Bildern und Skulpturen.
Eines Ihrer Kunstwerke – ein großes rotes Kanu, das Sie in Toronto aufgestellt haben – ist gerade beim Wettbewerb eines Kondom-Herstellers in die Top Ten der Plätze gewählt worden, an denen man in Toronto Sex haben kann. Freuen Sie sich darüber?
Und wie! Ich bin stolz darauf, denn das Ding steht in der Nähe des Gardiner Expressway – und immer wenn die Leute jetzt diese Stadtautobahn entlangfahren, denken sie an Sex. Das ist doch großartig!
Haben Sie das geahnt, als Sie die Skulptur entworfen haben?
Absolut. Mir war immer klar, dass es die Leute für diesen Zweck nutzen würden. Erstaunlich, dass die Stadt Toronto es aufgestellt hat.
Auf Ihrer Lesung in Berlin hat der Moderator erzählt, dass Sie Flaschen von deutschen und japanischen Waschmitteln sammeln. Wie kam es dazu?
Sammeln Sie gar nichts? Sollten Sie aber. In zehn Jahren schauen Sie sich dann an, was Sie gesammelt haben, und ich verspreche Ihnen, Sie werden etwas über sich selbst erfahren.
Was haben Sie durch das Sammeln von Waschmitteln über sich erfahren?
Ich habe erfahren, dass ich sie nicht alle auf einmal in die Dusche meines Hotelzimmers entleeren sollte, wie ich es vor zehn Jahren in Hamburg gemacht habe. Ich hatte einen halben Supermarkt leergekauft und vor dem Heimflug alles ausgeleert – leider kam kurz darauf Schaum aus sämtlichen Waschbecken im ganzen Hotel.
Eine ausführlichere Version des Gesprächs ist als Bonuskapitel in der Taschenbuchausgabe meines Buchs „Ich bin dann mal offline – Leben ohne Internet und Handy“ enthalten. (Bei Amazon bestellen / bei Apple iBooks bestellen / als Kindle eBook bestellen)
Douglas Coupland, 49, geboren auf einer Nato-Basis in Deutschland, studierte Bildhauerei in Vancouver. 1991 wurde sein Roman „Generation X“ ein Welterfolg; „Newsweek“ nannte ihn
„das Porträt einer Jugend mit zu vielen Fernsehern und zu wenig Arbeit“. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „J Pod“ (Tropen Verlag)
Interview: Christoph Koch
Erschienen in: Tagesspiegel
Fotos: Martin Tessler / Christoph Koch