In der Reihe “Mein Medien-Menü” stellen interessante Menschen ihre Lese-, Seh- und Hörgewohnheiten vor. Ihre Lieblingsautoren, die wichtigsten Webseiten, tollsten Magazine, Zeitungen und Radiosendungen – aber auch nützliche Apps und Werkzeuge, um in der immer größeren Menge von Informationen, den Überblick zu behalten und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Jeden Montag also ein neues Medien-Menü – diese Woche mit Felix Schwenzel, Web-Entwickler und Ins-Internet-Reinschreiber.
seit meiner ersten handy-internet-flatrate lese ich morgens (im bett, auf dem handy) zuerst mindestens eine halbe, meisten eine ganze stunde im google-reader. der google-reader ist für mich der eimer für alles. ich werfe alles was RSSifizierbar ist dort hinein. insgesamt befinden sich in meinem google-reader zur zeit 1040 RSS-feeds, von denen ich laut google in den letzten 30 tagen 17.956 artikel gelesen und 476 artikel angeklickt habe. das gute am google-reader ist, dass man artikel nicht wirklich lesen muss, um sie als gelesen zu markieren. uninteressantes lässt sich, nach einem kurzen blick, mit einem klick oder einer geste überspringen, bzw. als gelesen markieren.
unwichtiges überspringe ich lieber, als es aus dem feed-leser auszusortieren. so finde ich zum beispiel seit vier jahren jeden morgen das 20-uhr-programm aller grossen fernsehsender in meinem feed, obwohl ich in den letzten vier, fünf jahren höchsten fünf mal den fernseher überhaupt benutzt habe.
gegen die filterblase der eigenen lese-auswahl half früher ein google-reader-feature, mit dem einem ausgewählte leute artikel in den eignen feed-stream reinsharen konnten. das sind zwar scheussliche anglizismen, war aber enorm praktisch, da man nicht nur links vorgesetzt bekam, sondern immer gleich den ganzen artikel im volltext. seit google dieses grandiose feature eingestampft hat, folge ich als ersatz ziemlich vielen benutzern auf delicious.com, pinboard.in und einiges twitter-benutzern per RSS. neuerdings folge ich auch einigen quote.fm-benutzern, deren empfehlungen dankenswerterweise auch RSSbonierbar sind.
mit diesem ersten blick in den google-reader bin ich morgens eigentlich ganz gut informiert und habe mir meistens schon zwei, drei artikel für später markiert, um sie entweder später zu verbloggen oder kommentiert zu verlinken. manchmal schau ich dann auch noch schnell auf spiegel-online. mit spiegel-online verbindet mich eine art hassliebe. einerseits kann man sicher sein mit jedem besuch bei spiegel-online auf dem neuesten weltpolitischen stand zu sein, andererseits kann man sicher sein, sich bei jedem besuch über mindestens einen lieblos zusammengestückelten artikel, eine überdosis boulevard oder panorama-müll zu ärgern. aus irgendeinem unerfindlichen grund fühle ich mich seit dem launch von spiegel-online mit spiegel-online verbunden und sehe nicht ein, mich jetzt, nach 18 jahren, zu trennen. in meinen google-reader hat es spiegel-online allerdings nie geschafft, länger als 2 tage habe ich das überschriftengeschrei von spiegel-online nicht ausgehalten.
in meinem google-reader befinden sich grösstenteils blogs. meine lieblingsblogfeeds habe ich mit dem schlagwort „blogrolle“ versehen, alle blogs mit diesem schlagwort tauchen auf der rückseite von wirres.net auf. lieblingsblogs zu nennen fällt mir immer schwer. das tolle an blogs (und RSS) ist einerseits, dass sie lange schweigen können und wenn sie plötzlich wieder aktiv werden, poppen sie im reader auf und andererseits schätze ich eher einzelne artikel als ganze blogs. die tauchen dann täglich in meiner semi-manuel erstellten linkschau auf. obwohl es natürlich auch blogs gibt, bei denen jeder artikel lesenswert ist.
zeitung lese ich nur nur montags, auf meiner wöchentlichen fahrt von hamburg nach berlin. bei den montags-tageszeitungen hänge ich am tagesspiegel. auch hier verbindet mich eine ausgeprägte hassliebe. meistens schlafe ich aber im zug über dem tagesspiegel ein und schaffe den tagesspiegel eigentlich nur bei streckensperrungen oder bombendrohungen zuende zu lesen. das ist aber bisher nicht vorgekommen.
die mittagspause verbringe ich essend am google-reader. die kaffeepausen auch.
meine lesegewohnheiten sind rund um meinen feed-reader organisisert. twitter, facebook, googleplus nutze ich nur gelegentlich. es gibt ein paar empfehlungsdienste, die mir aus meinen diversen timelines in den sozialen netzwerken regelmässige, personalisierte zusammenfassungen übermitteln. meistens habe ich die darin empfohlenen artikel aber schon lange vorher in meinem reader-fluss entdeckt oder hochgespült bekommen. gute hochspüldienste leistet seit jahren rivva.de, das sich selbstverstänlich RRSbonieren lässt. wäre RSS nicht erfunden worden, würde ich wohl drei seiten ständig offen halten: rivva.de, twitter.com und spiegel.de. rivva und twitter weil sie ein „rauschender und nimmer versiegender Strom“ an inspiration und information sind und spiegel.de aus gewohnheit.
auf papier habe ich nur noch die brand eins und die c’t abonniert. ich kaufe mir allerdings regelmässig die grossartige geo-epoche und gelegentlich erstausgaben von blättern, deren aufmerksamkeitssäue durchs netzdorf getrieben werden (zuletzt wired.de). hin und wieder bekomme ich rezensionsexemplare zugesteckt und wenn mein iphone leer oder offline ist, lese ich manchmal auch das bahn-pr-magazin, das in zügen rumliegt. bei akuten langeweile anfällen lese ich auch das kleingedruckte auf verpackungen. die sonnatgs-faz habe ich früher gelegentlich gekauft, seitdem ich verheiratet bin habe ich sonntags aber keine musse mehr für eine ganze zeitung.
bücher, egal ob auf papier oder auf dem bildschirm liebe ich sehr, schaffe aber kaum eins zuende zu lesen. wenn ich es mal schaffe bücher zu lesen, meist in ausnahmezeiten wie urlaub oder krankheit, sind es biographien. zuletzt die autobiographien von charlie chaplin und jerry lewis. romane von neil gaiman, neal stephenson, haruki murakami, t. c. boyle, walter moers, j.k. rowling atme ich gelegentlich (krankheit, urlaub) in windeseile ein, scheitere in letzter zeit aber immer öfter nach ein paar hundert seiten. darunter leiden auch die zahlreichen bücher von bloggern die sich in den letzten zwei jahren als rezensionsexemplare auf meinem nachttisch oder in meiner kindle-app stapeln. wenn die bücher kapitelweise in meinem feed-reader auftauchten, würde ich vielleicht auch wieder mehr bücher lesen.
möglicherweise fällt mir der konsum von bücher in den letzten jahren aber auch so schwer, weil ich das amerikanische und britische fernsehen auf meinem laptop entdeckt habe. manche fernsehserien schaufle ich mir staffelweise und nächtelang rein, wobei sich mein schlechtes gewissen dank der quasi-literarischen qualität einiger serien in grenzen hält. und damit meine ich gar nicht mal die üblichen verdächtigen wie the wire, west wing, breaking bad, the shield oder lost, sondern auch die teilweise überirdisch gut und fesselnd geschriebenen, gelegentlich auf literarischen vorlagen basierenden serien wie boardwalk empire, damages, the good wife, homeland, game of thrones, deadwood, sherlock, dirk gently oder little dorrit.
meine lesegewohnheiten, aber auch meine sehgewohnheiten haben sich in den letzten jahren in zwei entscheidenden aspekten verändert. zum einem möchte ich alles was mich beeindruckt oder bewegt auch teilen. beim lesen mache ich mir notizen, kopiere zitate heraus, notiere mir gedanken oder textmarkere das papier voll, wenn ich einen textmarker zur hand habe (sonst wird geeselohrt oder mit dem fingernagel unterstrichen). teilweise tippe ich dialoge aus fernsehserien ab, wenn ich glaube später etwas über sie schreiben zu wollen. ich meine dass ich dadurch texte, fernsehserien oder filme anders als vorher als reiner konsument wahrnehme. zum anderen stopfe ich seit ein paar jahren nie geahnte mengen an lese- und sehstoff in mich hinein. ich bin gespannt ob ich irgendwann satt bin.
bisher sieht es nicht danach aus.
Felix Schwenzel betreibt das Fachblog für Irrelevanz wirres.net und schreibt gelegentlich für zeit.de, taz.de oder für Leute die ihn nach seiner Meinung fragen. Insgesamt schreibt er seit mehr als zehn Jahren ins Internet. Vor einer ganzen Weile hat er aufgehört, das selber „Bloggen“ zu nennen und schreibt einfach so ins Internet, ohne es irgendwie zu nennen. Felix Schwenzel ist 43 Jahre alt, arbeitete nach einem Architekturstudium zunächst als selbständiger, seit einigen Jahren als festangestellter Web- Entwickler, wohnt in Hamburg und in Berlin, ist verheiratet und leidet nach eigener Einschätzung unter milder Adipositas.
Text: Felix Schwenzel
Bild: Katia Kelm
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Vielen Dank an “The Atlantic Wire” für das wundervolle Format (dort heißt es “What I Read”). Wer Vorschläge hat, wer in dieser wöchentlichen Rubrik auch einmal zu Wort kommen und seine Lieblingsmedien vorstellen und empfehlen sollte, kann mir gerne schreiben.
Disclosure: Mit vielen der Menschen, die hier in “Was ich lese” ihre Mediengewohnheiten vorstellen (werden), bin ich befreundet oder zumindest leidlich bekannt.
Ich finde das jetzt ein bisschen beängstigend, weil ich fast jeden Satz unterschreiben könnte. Es gibt nur drei Ausnahmen: 1. Ich habe kein Smartphone und lese morgens demnach nicht via iPhone sondern am Laptop. 2. Man ersetze spiegel.de durch zeit.de. 3. Statt des gedruckten Tagespiegels nehme ich (zumindest wenn ich in München bin) die SZ.
Abgesehen davon kenne ich keinen Menschen, dessen Medienkonsum so sehr dem Meinigen gleicht. Wie auch immer: Danke für die mal wieder schöne Folge des Medien-Menüs. Ich freu mich auf Fortsetzungen (und bin gespannt, welche interessanten Menschen du noch alles aus dem Hut zauberst).