Andres Veiel („Blackbox BRD“, „Der Kick“, „Wer, wenn nicht wir“) nimmt sich in seinem dokumentarischen Stück „Das Himbeerreich“ der opaken Welt der Hochfinanz an. Für die Koproduktion zwischen Deutschem Theater und Schauspiel Stuttgart hat Veiel zahlreiche Banker interviewt und versucht, die Verbindungslinien zwischen ihren persönlichen Motiven und den gesellschaftlichen Strukturen aufzuzeigen. Ein Gespräch über Etagendiener, gierige Zahnärzte und Aktenordner voller Text.
Sie haben sich mit der RAF beschäftigt, mit Schauspielschülern und rechtsextremen Gewalttätern. Mit ihrem neuen Stück ‚Das Himbeerreich’ widmen Sie sich den obersten Etagen der Finanzwelt. Wie wählen Sie Ihre Themen aus?
Der Motor für meine Arbeiten sind immer meine eigenen Fragen. Bereits vor über zehn Jahren hat ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank mir gegenüber zugegeben: „Wir erzeugen immer mehr Geld ohne einen realen Gegenwart – natürlich läuft das auf einen Abgrund zu.“ Auf meine Frage, was die Konsequenz daraus sei, sagte er nur: „Die Kuh melken, solange sie Milch gibt.“ Die Fragen, die mich seither beschäftigen, lauten: Muss man das hinnehmen? Und: Wer bezahlt am Ende dafür?
Sie haben für das Stück mit rund 25 teils ehemaligen Investmentbankern, Managern und Bankvorständen gesprochen. Wie konnten Sie die dafür gewinnen?
Ich wollte das Thema sehr konkret angehen und mit den Menschen in den Machtpositionen sprechen, die diese Entscheidungen tatsächlich fällen. Bei den Vorstandsmitgliedern von Banken war schnell klar, dass keiner vor einer Kamera sprechen würde.
Nicht mal die ehemaligen?
Auch die sind meist noch vertraglich zu Stillschweigen verpflichtet und genießen nach wie vor zahlreiche Privilegien wie Büro, Fahrer oder Etagendiener. Diese Welt, in der man eigentlich bereits entmachtet ist, aber trotzdem noch Teil des Systems, ist das „Himbeerreich“. In einem Theatertext konnte ich ihnen Anonymität zusichern und somit über interne Betriebsabläufe sprechen und sehr konkret werden, ohne dass man sie belangen kann. Es hat dennoch lange gedauert, ein gewisses Vertrauen herzustellen. Bei einigen konnte ich erst beim fünften Gespräch das Aufnahmegerät mitlaufen lassen, bei anderen saß ich bis zuletzt mit deren Anwälten beisammen und habe um einzelne Passagen gerungen.
Warum wollten Sie das Thema überhaupt anhand einzelner Personen und Biographien erzählen?
Es geht mir nicht darum, nur die Gier von ein paar einzelnen anzuprangern. Ich wollte – ohne jetzt zu psychologisch werden zu wollen – auch schauen, wo diese Täter manchmal selbst auch Opfer sind. Es hat mich interessiert, warum sich Menschen wider besseren Wissens bereiterklärt haben, etwas mitzutragen, von dem sie wussten, dass es unverantwortlich ist. Von dem klar war, dass irgendwann die Allgemeinheit dafür aufkommen muss. Sei es der Steuerzahler oder der kleine Sparer, dessen Vermögen plötzlich entwertet wird.
Haben Sie ein Beispiel für dieses Privatisieren von Gewinnen und das Sozialisieren von Verlusten?
Die Hypo Real Estate ist ein sehr drastisches Beispiel. Das ist eine Bad Bank mit schlechten Papieren in zweistelliger Milliardenhöhe. Noch weiß niemand, ob das 20 oder 50 Milliarden sind, die da bis 2020 abseits des Bundeshaushalts versteckt sind. Irgendwann wird diese Summe ein riesiges Loch in den Bundeshaushalt reißen. Aber dann werden sich die, die dafür verantwortlich sind, vermutlich nicht mehr damit befassen müssen.
Weil sie dann schon ins ‚Himbeerreich’ hinübergewechselt haben. Wie ist es dort?
Einerseits ein himmlischer Zustand: Süße Früchte wachsen einem in den Mund, es ist für alles gesorgt. Gleichzeitig ist es ein Zustand, in dem diese Altvorstände und ehemaligen Entscheider plötzlich nicht mehr gefragt werden, an Bedeutung verlieren. Es ist ein Zustand des Wartens und der Einsamkeit. Der Tod rückt näher. Das ‚Himbeerreich’ ist eine Art Vorhölle – oder ein Vorparadies, je nachdem wie man es sehen will.
Ist es nicht ein bisschen einfach, die ganze Schuld für die aktuelle Krise nur einer Handvoll gieriger Investmentbanker in die Schuhe zu schieben?
Das tun wir auch nicht! So ein Banker-Bashing wäre einerseits zu einfach, gleichzeitig fände ich das heuchlerisch. In dem Stück thematisieren wir genauso die Verantwortung der Politik, die den Geist gewissermaßen erst aus der Flasche gelassen hat. Und es geht auch um das allgemeine Klima des ständigen Wachstums, das die gegenwärtige Krise überhaupt erst ermöglicht hat.
Weil alle mitzocken wollten, nicht nur die ganz Großen?
Ja, da gehört ja der Zahnarzt genauso dazu, der sich nicht mit den zwei Prozent Zinsen auf seinem Sparbuch zufrieden geben will. Weil er denkt: Da muss doch mehr drin sein, ich bin doch kein Idiot. Oder der Stadtkämmerer, der Immobilien an einen amerikanischen Fonds verkauft und sie dann für die nächsten 99 Jahre zurückleast. Dieses Gefühl, schlauer zu sein als die anderen, ein gutes Geschäft aufgetan zu haben, das die anderen nur nicht verstehen – dabei durchschaut man die Produkte selber nicht, die man den Investmentbankern da abkauft.
„Was muss passieren, damit was passiert“ lautete eine Ihrer zentralen Fragestellungen, als Sie sich mit der RAF beschäftigten. Wie beurteilen Sie die Demonstrationen in Spanien und Griechenland, bei denen es in letzter Zeit auch immer häufiger auch zu Gewalt kam?
Mein Eindruck ist, dass da nur wenige protestieren und zum Beispiel in Spanien vorwiegend die Älteren. Das bröckelt schnell wieder und ist außerdem ein regional sehr begrenzter Protest. Die Gewerkschaften in Deutschland rufen eben nicht zum Generalstreik auf, sondern es sind leider nur die unmittelbar Betroffenen, die auf die Straße gehen.
In Deutschland gibt es einerseits eine große Wut über diese Gier und Geschäftemacherei, gleichzeitig wird oft geklagt, das Thema sei zu komplex. Können Sie das nachvollziehen?
Dieses ständige Betonen, wie komplex alles ist, ist auch ein bequemer Weg um den Leuten, deren Lebensversicherungen gerade wertlos geworden sind, zu sagen: „Ihr versteht es ja eh nicht und wisst es auch nicht besser.“ Andererseits stimmt es natürlich: Eine Sprache, die mit Begriffen wie Derivaten oder stochastischer Volatilität operiert, ist bewusst darauf angelegt, dass die Finanz-Elite nicht verstanden werden will. Und vor dieser Tintenfischwolke aus Vokabular resignieren viele.
Es wäre unter anderem die Aufgabe des Journalismus, diese Komplexität aufzubrechen und solche Themen anschaulich zu erklären. Hat der Journalismus Ihrer Meinung nach versagt?
Insbesondere im Wirtschaftsjournalismus mangelte es lange Jahre an der Unabhängigkeit im Urteil. Das merkt man daran, dass ebenso wie in der Politik auch im Journalismus kaum jemand diese Krise vorhergesehen hat. Es war beinahe ketzerisch, dieses uneingeschränkte Wachstumsdenken zu hinterfragen. Blase, welche Blase? Alle glaubten an die „trickle down economy“ …
… das, was oben verdient wird, kommt irgendwann unten an.
Der Bankier braucht schließlich Hausangestellte, lässt sich eine Yacht bauen und stellt Leibwächter in Lohn und Brot. Irgendwann, so der Glaube, kommt der Segen also bei allen an. Und wenn das jemand in Frage stellte, hieß es sofort: Neidkultur! Wir leben außerdem in einer Zeit, die die Information vorsätzlich immer weiter dekontextualisiert. Scheinbar ist alles zugänglich, aber immer nur als Phänomen. Immer seltener werden Dinge in Zusammenhang gestellt, werden Ursachen aufgespürt – auch im Journalismus. Aber mir ist natürlich bewusst, dass ich aus einer relativ luxuriösen Position heraus spreche. Ich hatte selbst für das Theater vergleichsweise viel Zeit, konnte ein Jahr recherchieren und hinterher vier Monate aus den Interviews ein Destillat erstellen.
Sie betreiben für Ihre Arbeiten – egal, ob Film oder Theaterstück – einen sehr großen Rechercheaufwand. Wie stellen Sie sicher, dass Sie bei diesen Unmengen an Archivmaterial, an Interviews und so weiter, nicht den Blick für das Wesentliche verlieren?
Die Interviews zum Beispiel werden wortwörtlich 1:1 transkribiert, jedes Fitzelchen. Daraus entstehen ganze Aktenordner voller Text. Den lese ich dann noch einmal durch und merke schnell, an welchen Stellen ich es spannend finde. Das ist eher ein Bauchgefühl.
Wie muss man sich das ganz konkret vorstellen? Textmarker? Klebezettel? Karteikasten?
Was ich relevant finde, markiere ich mit Textmarker. Dann gibt es die Ausrufezeichen: Besonders spannende Textstellen, markiere ich mit einem Ausrufezeichen. Zwei und drei Ausrufezeichen sind die Steigerungsformen. Drei Ausrufezeichen steht für eine ganz besonders markante Formulierung oder ein extrem gutes Bild. Dann suche ich Stellen, mit denen man das montieren kann: Wozu passt das thematisch? Gibt es da einen Gegenspieler?
Dann wandert es vom Aktenordner in den Computer?
Ja, dann entsteht eine grobe Fünf-Akt-Struktur und ich fange an entsprechend zu montieren. Dann pumpe ich immer mehr Material in diese Struktur. Später lese ich es durch und nehme wieder etwas raus, wenn ich zum Beispiel merke, dass ich ins Mäandern gerate oder dass ein Beispiel statt dreien auch genügt. Dann wandern Dinge in einen Materialberg, der unter dem eigentlichen Text steht. Manchmal geht es auch wieder umgekehrt: Dann merke ich, dass ich etwas weggenommen habe, das zum Verständnis fehlt. Also wandert es aus dem Materialberg wieder nach oben. Es ist ein permanentes Zerstören, das sich später in der Arbeit mit den Schauspielern fortsetzt.
Wie wählen Sie Ihre Gesprächspartner aus?
Durch Recherche und Vorgespräche, manchmal ist es aber auch einfach nur ein glücklicher Zufall, dass ich auf jemanden stoße. Einen Bankmitarbeiter habe ich beim Occupy-Camp getroffen. Der stand da im Anzug herum und diskutierte. Das fand ich natürlich interessant, dass der sich dem so aussetzt. Dieser Mitarbeiter – kein Vorstandsmitglied, mittlere Händlerebene – hat das „Himbeerreich“ sehr bereichert.
Kann man wirklich alles verstehen, wenn man nur lang genug recherchiert und mit genügend Menschen spricht? Oder gibt es Dinge – wie beispielweise den grausamen Mord, den Sie für ‚Der Kick’ analysierten – die immer einen Rest Unbegreiflichkeit behalten?
Bei ‚Der Kick’ habe ich ja zuerst das Theaterstück und den Film gemacht und bin dann noch mal in das Dorf gefahren. Da habe ich gemerkt, dass es bei dieser Geschichte Aspekte gibt, die ich mir noch nicht angesehen habe. Und erst als ich durch weitere Gespräche die Großelterngeneration, den historischen Aspekt und das Dorf als räumlichen Körper noch mit hineingenommen habe, konnte ich das Buch schreiben und dann das Thema irgendwann auch loslassen. Aber selbst ganz am Ende bleiben immer noch Fragen.
Wie ertragen Sie die Gewalt, die so oft Ihr Thema ist? Wie halten Sie es aus, sich jahrelang bis ins letzte Detail damit auseinanderzusetzen, wie ein Jugendlicher einem Menschen mehrmals auf den Kopf springt?
Bei ‚Der Kick’ bin ich tatsächlich an meine eigenen Grenzen gekommen und fand viele der Bilder in meinem Kopf unerträglich. Als ich mit dem Täter die ganze Tat und dieses gnadenlose Foltern noch einmal durchgegangen bin, habe ich mich mehrfach gefragt, ob das der richtige Weg ist und ob ich mir das weiter zumuten will. Beim ‚Himbeerreich’ ist nicht ganz so schlimm. Da gibt es auch eine gewisse Fassungslosigkeit – die interessanterweise nicht geringer wird, je mehr ich erfahre, sondern immer größer. Aber es gibt auch zumindest stellenweise ein Verstehen, warum der eine oder andere so gehandelt hat, wie er gehandelt hat.
Wie hat sich Ihre Arbeitsweise in den letzten zehn Jahren verändert?
Ich habe die generelle Erfahrung gemacht, dass es immer schwieriger wird, an den Zentren der Macht dokumentarisch zu arbeiten. Durch zwischengeschaltete PR-Agenturen und durch ein gewachsenes Misstrauen gegenüber jeder Art von Transparenz ist das kaum noch möglich. Wenn es über die reine Selbstdarstellung von Erfolgen hinausgehen soll, wenn Entscheidungen hinterfragt oder wenn Machtzentren transparent gemacht werden sollen – dann merke ich, dass ich mit der Kamera dort nicht mehr reinkomme. ‚Black Box BRD’ war vermutlich die letzte Chance für so etwas. Auch ‚Das Himbeerreich’ wäre dokumentarisch undenkbar gewesen. Niemand, der mit mir gesprochen hat, hätte das auch vor einer Kamera erzählt. Daher also ein Hoch auf das Theater – die Bühne ist genau der richtige Ort für diesen wichtigen Stoff.
Interview: Christoph Koch
Erschienen in: DT Magazin