In der Reihe “Mein Medien-Menü” stellen interessante Menschen ihre Lese-, Seh- und Hörgewohnheiten vor. Ihre Lieblingsautoren, die wichtigsten Webseiten, tollsten Magazine, Zeitungen und Radiosendungen – aber auch nützliche Apps und Werkzeuge, um in der immer größeren Menge von Informationen, den Überblick zu behalten und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Jeden Montag also ein neues Medien-Menü. Diese Woche: Christoph Kappes – digitaler Vordenker und Medienunternehmer.
Ich habe kein Medienmenü mehr, ich esse immer – und alles durcheinander. Zu Beginn meines Studiums begann eine lange Intensivphase mit F.A.Z. und ZEIT, gefolgt von einer viel zu langen Arbeitsphase, in der ich täglich nur den Wirtschaftsteil von Zeitungen in Flugzeugen las (Wiwo und so weiter) – nicht einmal für das kurze Mittagssurfen auf SpOn und Co war damals Zeit. In anderen Ressorts blätterte ich an Wochenenden und schlief sodann ein, umnebelt von wohligen Wörtern. Nun, seit ich ein einigermaßen normales Arbeitspensum habe, lese ich wieder viel, aber da diese Phase mit meiner Mediendigitalisierung zusammenfällt, ist gar nichts vom Gewohnten und schon gar kein System mehr vorhanden. Es gibt in meinem Medienalltag keine Speisen und schon gar keine Menüs, ich entbündele alles und lese nur noch, was ich will. Ich esse, was ich selbst gekocht habe.
Eine gewisse Unordnung in meinem Lesen war schon sehr früh zu beobachten, ich habe diese Unordnung nur ausgeblendet, weil meine Psyche gern ein Bild von Ordnung konstruiert. In Wirklichkeit lese ich seit meiner Kindheit planlos, was Buchstaben hat – Milchtüten, Plakate und Hilfetexte, mein Hobby ist Symbolverarbeitung. Schon bei der einen Oma, bei der ich aufwuchs, lass ich die Funkuhr und die BUNTE, bei der anderen Oma in den Ferien ähnliches (HÖRZU und irgendwelche Krimis). Seit über zehn Jahren (bis heute!) lese ich im Fitness-Center SPIEGEL, Stern und beliebige Frauenzeitschriften, von BRIGITTE über FÜR SIE bis COSMOPOLITAN – im Liegen auf dem Bauch, im Hängen auf dem Rückendehner und im Sitzen an anderen Geräten und beim Dehnen. Und ich weiß nicht einmal, warum genau, am Inhalt liegt es eher nicht, Kochrezepte in Frauenzeitschriften einmal ausgenommen. Und Bilder, ja Bilder: Ich schaue beim Fitness auf Bilder wie andere Leute aus dem Fenster gucken. Vielleicht mag ich auch nicht auf Matten starren, deren feine Textur zumeist Mängel aufweist, und ein Blick ins liberale Dirndl der Nachbarin gilt in meinem Fitnesscenter als sehr unfein. Wahrscheinlich aber genieße ich es, bei solchen Gratis-Inhalten hemmungslos weiterzublättern, ohne irgendeine Verpflichtung zu haben. Vorzeitiges Umblättern ist eine Freiheit, die ich mir bei bezahlten Inhalten zwar leiste, aber mit schlechtem Gewissen bezahlte.
Bei mir war schon zu Beginn meiner Berufstätigkeit eine Schlüsselerkenntnis, dass ich für ein Leseexperiment die Zeitungen stapelte, um sie erst vier Wochen später in die Hand zu nehmen (First in – First out, FIFO-Prinzip). Das Ergebnis war, dass sich etwa 2/3 der Beiträge für mich erledigt hatten (Damals hatte ich die naive Vorstellung, beim Lesen handele es sich um Informationsaufnahme. Heute glaube ich, dass um Pflege der Denkwerkzeuge geht, also sowohl um die neurobiologische Wunderapparatur als auch der Konzepte, die diese Apparatur irgendwo repräsentiert). Später dann gab es wieder Zeitungsstapel, die ich selbst mit Abonnements verursachte, und zwar erst einen ZEIT-Stapel, weil deren belehrender Ton bei mir immer mehr Widerwillen erregte, und sodann einen FAZ-Stapel, weil die Texte mir entweder zu anstrengend waren oder mein aktuelles Interesse durch Zufall eben nicht trafen (Bundling, mit Absicht der Redaktion, ist aus Lesersicht Zufall) und ich auch nicht bereit war, mich Lesevorschlägen mir unbekannter Personen hinzugeben. Irgendwann wurde mir auch das Wachstum des Stapels über die Monate immer gleichgültiger, und zwar selbst dann, als ich kostenlose Abonnements erhielt.
Ich vermute, diese unendliche Gleichgültigkeit gegenüber Zeitungsinhalten ist bei mir darauf zurückzuführen, dass ich im Jahr 2000 den Fernsehapparat abgeschafft habe (TV sagt man heute, wenn man lateinsicher ist), und das eine der besten Entscheidungen meines Lebens war. Seitdem weiß ich, dass ich nicht auf Medien angewiesen bin. Wahrscheinlich kommt auch hinzu, dass ich mich von den selbstverständlichen Axiomen der bürgerlichen Welt innerlich immer mehr entfernt habe. Ich komme aus einem Elternhaus voller Regeln und Vorstellungen – darunter auch über das, was eine gute Zeitung ist – und ich bin stolz darauf, dass ich die meisten dieser Regeln postpubertär ablegen konnte. Die größte Filterblase wird von Zeitungsabos verursacht, wenn die Redaktion nicht geistig sehr beweglich ist.
Seit Twitter hat mein Leseverhalten sich stark verändert. Ich lasse mich täglich mit Links berieseln, finde dort aber fast immer nur Fachartikel gut. Da ich weiterhin keinen Fernseher habe (und dabei soll es bleiben), stöbere ich alle paar Tage bei faz.net und SpOn herum, ob ich auch nichts verpasst habe, was common sense sein könnte. Diese Ausflüge sind aber sehr kurz, Informavore im Burst Mode. Wenn ich wirklich Muße habe, steuere ich die NZZ, den Perlentaucher oder einige von rund 50 Blogs an, die ich grob verfolge. Im Internet suche ich nach Trüffeln, die mich geistig voranbringen, Einstiegspunkt ist häufig Wikipedia oder eine der Diskussionen mit etwa drei Dutzend Leuten, die ich an versteckten öffentlichen Stellen im Internet treffe, und am Ende lande ich in den entlegensten Ecken der Geisteswissenschaften (von Stadtsoziologie über Kybernetik bis Psychologie). Diese Trüffel werden nach einem eigens von mir entwickelten Verfahren in Stapeln verarbeitet, das ich ungern öffentlich mache. Denn an dessen Ende steht ein Ausdruck auf Papier (geheftet oder mit einer speziellen Hipster-Büroklammer gebunden), den ich in einem gelben Hefter mit dem schönen Namen „Schmöker“ mit mir herumtrage, auch wenn ich in anderen Städten bin, mindestens fünf dieser „Schmöker“ sind immer dabei. Die verarbeite ich wie ein Lese-Freak aus einem früheren Jahrzehnt mit Leuchtmarker und Bleistift (so funktioniert Deep Reading bei mir, bei dem ich sehr genau hinlesen und auch speichern kann). Nach dem Lesen werfe ich den Text mit Wonne weg (manche liegen allerdings seit Jahren dann doch in staubigen Ecken, weil ich mich von ihnen nicht trennen kann) und den Link zum Text oder den Text selbst archiviere ich dann digital auf einem Server, der eine eigens von mir dafür aufgebaute Taxonomie hat.
Zusätzlich lese ich völlig zufällig Monatsperiodika (z.B. brand eins, MERKUR, de:bug, diverse geisteswissenschaftliche Fachzeitschriften). Und dann habe ich auch Konferenz-Reader für mich entdeckt, das sind mitunter wahre Schätze, oder ich steige über eine berühmte „Geistesgrösse“ ins Web ein, verliere mich im Nirwana und habe 35 Tabs mehr. Filme gucke ich so gut wie nie, obwohl mich einige sehr beeeinflusst oder berührt haben. Musik ist eine Obsession, die nochmal ein Extra-Beitrag wäre, da sind in fast allen Genres Perlen und ich habe Phasen, in denen ich mich tief in ein Subgenre bohre, mal Neofolk, mal Minimal House, mal Noise und Drone, mal 70er Progressive. Radio höre ich gar nicht, von DLF/Dradio auf langen Strecken einmal abgesehen. Die einzige Konstante über 25 Jahre ist wohl die Fachzeitschrift c’t, die ich sehr häufig am Kiosk kaufe, weil ich ein klammheimlicher Verehrer der Heise-Redaktion bin, die faktisch fehlerfreie Texte mit grosser Tiefe liefert. Eigentlich müsste ich Ehrenleser bei Heise werden.
Und ich habe in den letzten Jahren wieder begonnen, Bücher zu lesen, das sind meistens Grundlagenwerke von C.G. Jung bis Luhmann. Das wäre überhaupt mein wichtigster Rat: Bücher zu lesen, und zwar geisteswissenschaftliche Fachbücher. Sie haben die maximale Informationsdichte, man lernt also auch maximal – und in der verbleibenden Lebenszeit ist Selektion das Zauberwort. Es sind nur ein paar tausend Bücher, die ein Mensch im Laufe seines Lebens lesen kann, hat Arno Schmidt mal ausgerechnet, und er sagt, was man besser nicht sagen kann: „Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur Durchschnittliches zu lesen.“
Ich vermute, dass ich in ein paar Jahren nur noch das absolute Minimum an Nachrichten lesen werde. Mehr als Irritation bieten mir diese Texte ohnehin selten und meine Auffassung von Gesellschaft (vor allem Politik) ist auch lange nicht mehr, dass es sich um Phänomene handeln würde, die wirklich immer schlecht wären, die beherrschbar wären, die nicht systemisch wären oder über die ich mich empören müsste. Ich glaube außerdem, dass die Dinge passieren, und das tun sie auch ohne meinen Medienkonsum. Ich glaube auch im tiefsten Innern nicht, dass ich Ansprüche an andere äußern sollte, solange mich ihr Handeln nicht betrifft. Meine Timeline ist diesbezüglich eine grosse Hilfe, ein wunderbarer Spiegel der Menschen, der mich therapiert. Das mag zu abgeklärt oder defätistisch klingen, und vielleicht ist es sogar eine unbewusste Taktik, das Leben mit seiner Lautstärke, seinem Kampf und seinen Zufällen zu vermeiden. Für mich ist das aber ein großes Glück, dass ich immer besser verstehe was warum passiert und das, was ist, immer mehr anzunehmen – wobei ich schon noch etwas bewegen möchte, ich schalte aber wahrscheinlich bald auf „Kleinaktivismus“ um, vielleicht Freifunk, Wikimedia oder ein lokales Blog. Im Alter möchte ich ohne Massenmedien in einem Garten liegen, ein bisschen gute Bücher lesen und am Ende möglichst lange den Vögeln zuhören, bis ich sehr müde bin.
Text: Christoph Kappes
Foto: Christian Rating
Christoph Kappes, geb. 1962, ist Software- und Medien-Unternehmer (Hintergrund Jura und Informatik). Er ist Geschäftsführer der Fructus GmbH und einer Pioniere der Internetbranche in Deutschland. Privat bloggt er auf christophkappes.de und schreibt gelegentlich für FAZ, ZEIT.de und andere Medien zu Online-Themen.
***
Wer auch zukünftige Folgen von “Mein Medien-Menü” nicht verpassen will, sollte den RSS-Feed abonnieren oder mir auf Twitter folgen.
Wer das Medien-Menü regelmäßig gerne und mit Gewinn liest und sich dafür bedanken möchte, findet hier einen Amazon-Wunschzettel voll von Dingen, mit denen man mir eine Freude machen kann.
Vielen Dank an “The Atlantic Wire” für das wundervolle Format (dort heißt es “What I Read”). Wer Vorschläge hat, wer in dieser wöchentlichen Rubrik auch einmal zu Wort kommen und seine Lieblingsmedien vorstellen und empfehlen sollte, kann mir gerne schreiben.
Bedankt ! Schönes Format, schöne Idee. Der Kappes Text natürlich auch =|:-)