Stanford auf dem Sofa: Vorlesungen aus dem Internet

Written by on 25/04/2013 in Neon with 15 Comments

Keine Ausreden mehr: Bilden kann sich jeder, der einen Internetanschluss hat. Hier sind die besten Vorlesungen bei Youtube und iTunes.

Irgendwann kommt der Augenblick, da erscheint die Schulzeit im warmen Licht der Nostalgie: Man denkt nicht mehr an Auswendiglernen und Abipanik, sondern bedauernd, dass man nie wieder so umfassend interessiert war wie zwischen achtzehn und zwanzig. Wie schön es doch wäre, diese Festplatte namens Hirn komplett neu zu bespielen: mit Hegel, Quantenphysik oder Caravaggio. Was fand man damals nicht alles interessant! Und hätte es mit ein bisschen mehr Lernen nicht auch für eine renommierte Uni im Ausland gereicht? Das Gute ist: Gibt’s alles. Frei verfügbar. Zu jeder Tages- und Nachtzeit – vorausgesetzt, man versteht ausreichend Englisch. Die Mauern der Eliteuniversitäten geben nach. Unter anderem dank Youtube – die Weltmüllhalde (furzende Katzen, tanzende Häftlinge) ist gleichzeitig Weltwissensschatztruhe.

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Fortbildung 2.0 kann zum Beispiel so aussehen: Morgens lässt man sich von Elizabeth Warren von der Harvard Law School die Ursache der Finanzkrise erklären. Mittags bestaunt man Slavoj Zizek, der fahrig und brillant über Hegel referiert. Und abends besucht man einen Vortrag der Carnegie- Mellon-Universität, der sich dem Begriff der Antimaterie im Film »Illuminati« widmet. Neben Youtube versammelt auch iTunes U mehr als 500 000 Vorlesungen, Videos und weitere Lehrmaterialien von Universitäten aus der ganzen Welt, die meisten davon auf Englisch. Und es gibt Angebote wie die Khan Academy, gegründet von Salman Khan, ehemals Hedgefondsmanager, heute Philanthrop und Bildungsaktivist. In mehr als 3000 Lehrvideos kann man mit der Khan Academy die Lücken in Physik, Arithmetik oder Kunstgeschichte schließen.

Die Wissensrevolution geht vor allem auf leidenschaftliche Professoren zurück: Sie wollen – einer sehr amerikanischen und liberalen Idee folgend – ihr Wissen nicht nur mit ihren zahlenden Studenten teilen, sondern mit jedem Menschen, der wissenshungrig ist. Vor allem diejenigen Professoren, deren Hörsäle sowieso aus allen Nähten platzen, merken, dass sie offensichtlich etwas richtig machen, und haben keine Scheu, sich bei ihren Vorlesungen filmen zu lassen. Der Deutsche Sebastian Thrun ist der Prototyp dieses neuen Professorentyps: Sein Onlinekurs »Künstliche Intelligenz«, den er im vergangenen Jahr mit seinem Kollegen Peter Norvig an der Eliteuniversität Stanford gegeben hat, machte ihn zu einem der einflussreichsten Professoren der Welt. An dem Kurs, gefilmt im Keller von Thruns Haus, nahmen 160 000 Studenten in 190 Ländern teil. Fünf Millionen Mal wurde der Kurs bislang aufgerufen. Im Iran, wo Youtube nicht verfügbar ist, hat ein Student den Kurs – mit Thruns Erlaubnis – auf eine andere Seite gestellt und an 1000 Studenten weitergeleitet. Thrun, der auch Google Street View und fahrerlose Autos mitentwickelt hat, gab im vergangenen Jahr seine Lehrstelle in Stanford auf, um ein noch ambitionierteres Projekt zu starten: Udacity. Das ist eine Onlineakademie, mit der Thrun jedem Teilnehmer innerhalb von sieben Wochen beibringen will, eine eigene Suchmaschine zu erstellen. Oder ein Roboterauto zu programmieren. Alles mit kurzen Lehrvideos, praktischen Beispielen und Hausaufgaben. Mehr als 90 000 Teilnehmer haben sich binnen kurzer Zeit angemeldet. Bisher sind Thruns Kurse kostenlos. Nur für bestimmte Zusatzangebote, etwa für die Möglichkeit, eine Prüfung abzulegen, fallen Gebühren an.

Thruns Kollegen in Deutschland hinken hinterher. Von den 100 Millionen Euro, die die Bundesregierung einst für die Digitalisierung der Lehre bereitgestellt hat, merkt man nach mehr als zehn Jahren kaum etwas: Nur wenige Lehrbeauftragte stehen Videomitschnitten von Vorlesungen offen gegenüber. Zu groß die Angst, dass mögliche Versprecher oder Fehler Millionen sehen könnten. Noch herrscht die Auffassung vor, für ein Studium brauche man mehr als einen Internetanschluss: ein Abiturzeugnis, eine Immatrikulationsbescheinigung und einen Beleg über die Zahlung der Studiengebühren. Doch die Sehnsucht, von den klügsten Köpfen der Welt inspiriert zu werden, wird sich nicht aufhalten lassen. Vielleicht liegt die Zukunft der Universität tatsächlich auf dem Sofa, dem Bett, dem Küchentisch: Uni überall.

Die sehenswertesten Vorlesungen im Internet

Grundwissen Literatur

Amy Hungerford, Yale Thema: amerikanische Romane seit 1945, in diesem Fall »Lolita« von Vladimir Nabokov.

Laienverständlichkeit: 3 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Dass man nach einer solch anspruchsvollen Textinterpretation niemals wieder »mal kurz bei Wikipedia nachsehen« wird, was an bestimmten Werken der Weltliteratur eigentlich so toll ist.

Worum geht’s genau? In anderen Vorlesungen dieser Reihe analysiert die Yale-Professorin Hungerford die Werke von Jack Kerouac, Thomas Pynchon und Salinger. Schwerpunkt ist die stilistische und künstlerische Entwicklung des modernen amerikanischen Romans.

Highlight: wenn Hungerford erklärt, was Nabokovs Kunstauffassung und Faible für Schmetterlingskunde mit dem Wunsch seiner Figur Humbert nach der Unsterblichkeit Lolitas zu tun haben.

Inspirierend

Randy Pausch, Carnegie-Mellon-Universität Thema: die Lebensrückschau eines unheilbar an Krebs erkrankten Informatikprofessors.

Laienverständlichkeit: 9 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Dass die amerikanische Tradition der Last Lecture, der letzten Vorlesung, die ein scheidender Professor hält, in diesem Fall wörtlich zu verstehen ist (zu Beginn zeigt Pausch die Metastasen in seinem Kopf).

Worum geht’s genau? Pausch hält einen lebensbejahenden, lustigen und inspirierenden Vortrag über die Lebenserkenntnisse, die er gewonnen hat. An einer Stelle sagt er, dass die Backsteinmauern dieser Unis nicht dazu da sind, uns von ihnen abzuhalten, sondern durch sie zu verstehen, wie sehr wir ein Ziel erreichen und sie überwinden wollen.

Highlight: Sein Schlusssatz: »This talk was not for you, it was for my kids.«

Philosophisch

Slavoj Zizek, Gastvortrag an der Universität Boston Thema: »Fürchte deinen Nachbarn wie dich selbst. Widersprüche im Konzept der Toleranz.«

Laienverständlichkeit: 7 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Nicht nur was Zizek sagt, sondern vor allem wie diese Theoriemaschine – befeuert von Marx, Hegel, Lacan, Film- und Kulturtheorie – schnaubt, schwitzt und sich mit den Händen ins Gesicht fasst, ist sehenswert.

Worum geht’s genau? Zizek rechnet in seinem Vortrag mit dem Toleranzdenken ab, da dadurch gesellschaftliche Ungerechtigkeiten wie Rassismus als ein bloßes Toleranzproblem verharmlost würden – und die politischen Entscheider ihrer Verantwortung entkämen.

Highlight: die Anekdote, wie Zizek seine »Theorie-Gegnerin«, die homosexuelle Feministin Judith Butler, bei einer Konferenz brüskiert hat und sich entschuldigen musste.

Fesselnd

Michael Sandel, Harvard Thema: Gerechtigkeit und Moral.

Laienverständlichkeit: 6 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Die Präzision der Beweisführung.

Worum geht’s genau? Die Vorlesung – mit rund vier Millionen Aufrufen eine der meistgeklickten bei Youtube – beginnt mit einem Dilemma: Wie verhält man sich in dem hypothetischen Fall, dass man eine außer Kontrolle geratene Straßenbahn steuern muss, die auf fünf Arbeiter zurast und die man allenfalls noch auf eine Nebenstraße umlenken könnte, auf der nur ein Mensch steht, den man töten würde? Sandels Argumentationskette endet mit der Feststellung, wie widersprüchlich die menschliche Moral ist.

Highlight: Ein Student versucht, Sandels Frage zu beantworten, was denn wäre, wenn man einen dicken Menschen, der an der Strecke steht, so schubsen würde, dass er als menschliche Bremse für das außer Kontrolle geratene Fahrzeug fungierte. Der Student verzettelt sich auf unterhaltsame Weise in seinen Argumenten (im Video ab Minute 7:30 zu sehen).

Best of Nischenwissen I

Katharina Hölzle, Hasso – Plattner-Institut, Potsdam Thema: Gründung von IT-Unternehmen.

Laienverständlichkeit: 6 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Die Verständlichkeit und große Praxisnähe.

Worum geht’s genau? Von Marktanalyse bis Mitarbeiterführung wird alles erklärt, was der Entrepreneur von morgen braucht. Die Darstellung über ein eingeklinktes Videofeld und eine Folien-Slideshow ist auf Dauer etwas ermüdend, aber die vielen Beispiele und der hohe Alltagsnutzwert machen das wett.

Highlight: Hölzle erklärt am Beispiel eines von T-Mobile inszenierten Flashmobs das Prinzip des »Buzz Marketings«.

Wo zu sehen: Download gratis über iTunes U (der Flashmob ist in der Vorlesung »Buzz Marketing « ab Minute 3 zu sehen).

Best of Nischenwissen II

Sebastian Thrun und Peter Norvig, Stanford Thema: Künstliche Intelligenz.

Laienverständlichkeit: 2 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Die schrittweise Aufbereitung eines hochkomplexen Stoffes.

Worum geht’s genau? Thrun und Norvig erklären in ihrer 22-teiligen Vorlesungsreihe, die wiederum in etliche kurze Videos aufgeteilt ist, die Grundzüge von Robotik, maschinellem Lernen und computergestütztem Sehen. Meistens sind sie selbst nicht im Bild, sondern nur ein Blatt Papier und der Stift, mit dem sie schreiben. So anspruchsvoll der Kursinhalt ist, so Sendung-mit-der-Maus-haft und sympathisch sind die Unterrichtsmethoden.

Highlight: Thruns deutscher Akzent.

Wo zu sehen: ai-class.com

Unterhaltsam

Robert Sapolsky, Stanford Thema: Verhaltensbiologie.

Laienverständlichkeit: 8 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Die Pointensicherheit des bärtigen Professors.

Worum geht’s genau? In der ersten Vorlesung beschreibt er, wie das menschliche Verhalten weder allein von den genetischen Voraussetzungen beeinflusst wird noch von den Einflüssen unserer Umwelt und Erziehung. Das Spannende daran sind die extrem praxisnahen Beispiele: Sapolsky liebt es, aus der Sex- und Crime-Sektion der Zeitung zu zitieren.

Highlight: Zu Beginn fragt der Professor: »Was haben die Tatsache, seine Periode zu haben, viel Junkfood zu essen, anabole Steroide zu nehmen und einen Gehirntumor zu haben, miteinander gemeinsam?« Sapolsky ist so diabolisch- brillant wie Dr. House und so rampensauveranlagt wie ein Stand-up-Comedian. (Antwort auf die vorige Frage gibt’s ab Minute 3:30)

Grundwissen Bio

Marian Diamond, Berkeley Thema: Anatomie.

Laienverständlichkeit: 5 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Die Klugheit einer älteren Dame.

Worum geht’s genau? Frontalunterricht, wie man ihn kennt: Marian Diamond steht im Kostümchen vor einer Tafel, hat Kreide, Gummihandschuhe und ein Gehirn in der Hand, neben ihr baumelt ein menschliches Skelett, und sie benutzt jede Menge lateinische Fachausdrücke. Und doch zieht Diamond einen in ihren Bann. Weil sie so leidenschaftlich vom Wunder der menschlichen Existenz erzählt.

Highlight: Wenn Diamond sich darüber freut, dass vor einigen Jahren der 639. Muskel im menschlichen Körper (genauer: im Kopf) entdeckt wurde – und noch kein Wissenschaftler eine Ahnung hat, wofür dieser gut ist.

Grundwissen Mathematik

Jörn Loviscach, FH Bielefeld Thema: Mathematik.

Laienverständlichkeit: 2 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Die Professionalität, mit der der Bielefelder Professor Jörn Loviscach seine Vorlesungen fürs Internet aufbereitet: kurze Videos, sinnvolle Systematik, klare Gliederung. Loviscach markiert schon während der Aufnahme die Stellen, an denen er sich verhaspelt hat, um diese Stellen dann bei der Nachbearbeitung des Videos ohne Suchen herausschneiden zu können. Kein Wunder, dass 11 000 Studenten seinen Videopodcast abonniert haben.

Worum geht’s genau? Vektorraum, Untervektorraum, Fläche unter Gauß-Glocke, Doppelintegral in Polarkoordinaten …

Highlight: Loviscach tritt auf Wunsch einiger Studenten seit kurzem selbst in seinen Videos auf. Dazu hat er sich mit einer Webkamera gefilmt und das Bild hinter die transparente Fläche gelegt, auf die er schreibt. Mehr Raumschiff Enterprise geht kaum.

Wo zu sehen: youtube.com/joernloviscach

Anschaulich

Walter Lewin, Physiker am MIT in Cambridge Thema: Klassische Mechanik.


Laienverständlichkeit: 4 von 10.

Was macht die Vorlesung so außergewöhnlich? Lewins Bemühen um Anschaulichkeit.

Worum geht’s genau? Der legendäre Physikprofessor schreibt erst eine riesige Tafel voll und erklärt Formeln und Gleichungen, um sie dann am eigenen Leib zu demonstrieren: Mal schwingt er sich auf einem gigantischen Pendel durch den Raum, mal lässt er sich mit einem Fahrrad, an das er einen Feuerlöscher geschnallt hat, durch den Hörsaal schießen.

Highlight: Lewin hat einmal gesagt, dass er eine Vorlesung drei Mal ohne Publikum hält, bevor er vor seine Studenten tritt. Dennoch scheint er selbst immer aufs Neue fasziniert von seinem Unterrichtsstoff zu sein: »Oh boy!«, ruft er aufgeregt, als er einem Tennisball nachrennt, der durch den Hörsaal hüpft.

Wo zu sehen: Lewin ist längst emeritiert, die Beispiele sind Ende der Neunzigerjahre entstanden (aber deswegen nicht weniger gut): bit.ly/tollephysik

Text: Annabel Dillig & Christoph Koch
Erschienen in: NEON 

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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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