In der Reihe “Mein Medien-Menü” stellen interessante Menschen ihre Lese-, Seh- und Hörgewohnheiten vor. Ihre Lieblingsautoren, die wichtigsten Webseiten, tollsten Magazine, Zeitungen und Radiosendungen – aber auch nützliche Apps und Werkzeuge, um in der immer größeren Menge von Informationen den Überblick zu behalten und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Jeden Montag also ein neues Medien-Menü. Diese Woche: Der Journalistenschüler Simon Hurtz.
Ich bin ein lebender Anachronismus: Bis heute besitze ich kein „mobiles Endgerät“. In meiner Hosentasche steckt ein simples Stupidphone, und weil ich mich partout nicht entscheiden kann, ob mir ein Tablet (Nexus 7) oder ein e-Reader (Kindle Paperwhite) besser gefallen würde, bleibt der Laptop Dreh- und Angelpunkt meines Medienkonsums.
Bis Mitte März war ich überzeugt, noch in einer weiteren Hinsicht aus der Zeit gefallen zu sein. Dann setzte Google dem Reader die Galgenfrist, und plötzlich war meine Filter Bubble voll mit Protest und Katzenjammer. Seitdem weiß ich, dass ich vielleicht der letzte Mensch unter 30 bin, der noch nie in seinem Leben ein Handy mit Touchscreen in der Hand gehalten hat (kein Witz), es aber offensichtlich noch ein paar weitere hoffnungslose RSS-Romantiker gibt.
Inzwischen bin ich auf Feedly umgestiegen, weil ich dort aber keine Statistiken präsentiert bekomme, habe ich den Google Reader nochmal reaktiviert: „From your 470 subscriptions, over the last 30 days you read 1,344 items. Since February 14, 2009 you have read a total of 47,975 items.“ Ich bin froh, dass ich nicht auch noch erfahre, wie lange ich dafür gebraucht habe – sonst müsste ich mein Leseverhalten wohl grundsätzlich hinterfragen. So aber mache ich mir keine Gedanken über „verschwendete“ Zeit und öffne weiter jeden Morgen meinen RSS-Reader.
Angesichts all der wunderbaren Feeds, die sich dort tummeln, verbietet sich das Wort Verschwendung ohnehin. Da sind zum einen spektakuläre Geheimtipps wie Stefan Niggemeier, Felix Schwenzel oder Dirk von Gehlen – aber auch ein paar Blogs, die vielleicht noch nicht jeder kennt. Ich picke ein paar heraus, die mir besonders am Herzen liegen.
Rico Grimm ist freier Journalist im Nahen Osten – er fotografiert, schreibt und sammelt Zitate. Ob Maximilian Buddenbohm nun bloggender Autor oder bücherschreibender Blogger ist, weiß ich nicht – ist aber auch egal, denn egal, ob im Internet oder auf Papier: Lesen lohnt in jedem Fall. Gleiches gilt für Wolfgang Herrndorf. Der Kioskforscher Markus Böhm liebt Zeitschriften – das tun andere auch, aber ich kenne niemand, der mit so spitzer Feder über Sadomaso-Blätter, Philosophiemagazine oder Hefte für Papageienbesitzer schreibt. Lukas Heinser kennt man vom BILDblog. Noch lieber als seine Medienkritik lese ich die privaten Anekdoten über das Ruhrgebiet, Pop und die Welt. Abzüglich des Ruhrgebiets trifft diese Themensetzung auch auf Kleinerdrei zu: Gleich acht Autorinnen und Autoren bloggen hier täglich über alles Mögliche. Das verbindende Element: Ich lese fast jeden Eintrag gerne.
Neben der mitunter zweifelhaften Qualität haben RTL und LIDL eine Gemeinsamkeit: Peer Schader schreibt darüber; im Supermarktblog und im Fernsehblog und in beiden Fällen abonnierenswürdig Gottfried Haunhorst ist 83, hat einen Facebook-Account und twittert. Seine Enkelin Charlotte erklärt ihm dieses Internet, er erklärt ihr die Welt. Pflichtlektüre für alle Fußball-Interessierten: das Fußballdoping-Watchblog von Daniel Drepper. Mein absolutes Lieblingsblog über China heißt Reisbetriebene Roboter. Zugegeben: Das ist auch das einzige Blog über China das ich kenne, aber toll ist es allemal. Toll ist ein prima Stichwort: Was Eva Schulz, Michalis Pantelouris und Kübra Gümüsay schreiben, finde ich auch toll. Gelangweilt vom FAZ-SZ-Handelsblatt-Wirtschaftsteil-Einerlei? Dann das hier abonnieren: Blicklog, Egghat, Herdentrieb, Wirtschaftswunder. Und abschließend noch ein paar Medien-Feeds im Schnelldurchlauf: 120 Sekunden, Social Media Watchblog, Datenjournalist, Altpapier, Deadline, Vocer, Perlentaucher-Blog.
Bevor ich noch zehn andere Lieblingsblogs vergesse, verabschiede ich mich vom Anspruch auf Vollständigkeit und lasse auch dieses Internet hinter mir. Ab und zu müssen für meinen Medienkonsum nämlich auch noch Bäume sterben. Zwar habe ich kein Totholz im Abo (davon fühle ich mich unter Druck gesetzt, weil mein schlechtes Lesegewissen parallel zum Zeitungsstapel in der Ecke wächst, bis ich turnusmäßig einsehe, dass ich das zwei Monate alte Zeit-Dossier wohl nicht mehr lesen werde, das Altpapier rausbringe und meine Sammelwut von vorne losgeht), doch wenn mir unterwegs ein Dummy-, brand, enorm oder 11Freunde-Titel begegnet und gut gefällt, erinnert sich der Nostalgiker in mir, dass er am liebsten auf Papier liest. Dem Glaubenskrieg zwischen SZ- und Zeit-Magazin-Liebhabern entziehe ich mich, indem ich einfach beide prima finde, weil ich zwischen Uhrenwerbung und Modestrecken regelmäßig großartige Geschichten entdecke. Außerdem mag ich die Kreuzworträtsel. Englische Magazine (die üblichen Verdächtigen) kaufe ich eher selten, weil ich auf Deutsch einfach flüssiger lese, obwohl ich eigentlich ganz gut Englisch spreche. Gerade lange Reportagen (etwa das großartige Obama-Portrait von Michael Lewis) fühlen sich dann immer ein bisschen nach Arbeit an. Leider.
Kluge Medienforscher prophezeien den Untergang des linearen Programms und wahrscheinlich wird dem im Zeitalter der Mediatheken und Podcasts niemand eine Träne nachweinen – außer mir. Vielleicht ist es eine Trotzreaktion, weil ich ohne Fernseher aufgewachsen bin und jetzt meine, mich erst an ein fixes Programmschema gewöhnen zu müssen, bevor ich mich davon emanzipieren kann. In dieser Hinsicht mag ich es, bevormundet zu werden. Entweder ich schaue den Tatort um 20:15 (am Laptop, einen Fernseher besitze ich bis heute nicht) und im Bewusstsein, dass ein paar Millionen andere gerade das Gleiche tun, oder ich lasse es bleiben. Ich schimpfe zwar gerne und ausgiebig über die Depublizierung öffentlicher-rechtlicher Angebote, selbst nutze ich die Mediatheken aber nie. Sobald ich mich da reinklicke, sehe ich sofort drei Sendungen, die „man unbedingt mal anschauen sollte“, was mein schlechtes Lesegewissen noch durch ein schlechtes Fernsehgewissen erweitert. Dieses „man müsste mal“ macht mich ganz fuchsig, deshalb halte ich mich von den Mediatheken fern.
Dasselbe gilt fürs Radio: live oder gar nicht, Podcasts verwirren mich nur. Mit keinem anderen Medium (das Internet ist für mich ein Verbreitungsweg, kein Medium) verbringe ich ähnlich viel Zeit. Die Zeitfunk-Redaktion des Deutschlandfunks strukturiert meinen Tag: Ich lasse mich von den Informationen am Morgen wecken und gehe mit Das war der Tag ins Bett. Wenn ich es schaffe, höre ich am Wochenende Breitband und abends den Zündfunk oder Eins zu Eins (besonders gerne mit dem wunderbaren Achim Bogdahn). An jedem freien Samstag muss ich mich aufs Neue zwischen der ARD Bundesliga-Konferenz (schöne Kindheitserinnerung) und den Jungs von 90elf (keine Sabine Töpperwien) entscheiden. Dass die Internet-Übertragungsrechte nächste Saison an Sport1 gehen (was das für 90elf bedeutet, kann man sich vorstellen), hat mich fast sosehr schockiert, wie der Tod des Google Readers.
Bücher. Ach ja, Bücher gibt es auch noch. Vor kurzem haben mir meine Eltern drei volle Billy-Regale vorbeigebracht, womit zumindest ein Teil meiner Privatbibliothek wieder in meinem Besitz ist. Bevor ich durch meinen anstrengenden Hang zur Vollständigkeit auch noch die letzten Leser verlieren, mache ich es mir leicht: Bücher sind für mich keine Medien, sondern Lebensqualität, und haben in meinem Medien-Menü nichts verloren.
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Vielen Dank an “The Atlantic Wire” für das wundervolle Format (dort heißt es “What I Read”). Wer Vorschläge hat, wer in dieser wöchentlichen Rubrik auch einmal zu Wort kommen und seine Lieblingsmedien vorstellen und empfehlen sollte, kann mir gerne schreiben.
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