Durch E-Books werden die Lesegewohnheiten von Kunden zwar seltsam gläsern – aber damit auch die Bücher besser.
Den Satz »Manchmal passieren den Menschen Dinge, für die sie nicht gewappnet sind« haben rund 18 000 Leser aus dem Buch »Die Tribute von Panem. Gefährliche Liebe« in ihrem Kindle angestrichen. Diese Passage ist damit momentan in allen digitalen Büchern mit Abstand die beliebteste -zumindest auf amazon.com.
Früher war Lesen eine sehr private Handlung und der Leser für Verlage und Autoren ein dunkler Fleck: Niemand wusste, ob ein gekauftes Buch angefangen, weggelegt, verschenkt oder auf ewig ins Regal verbannt wurde. Je mehr Leute Bücher auf dem Kindle, dem iPad oder ihrem Smartphone lesen, umso mehr ändert sich das. Denn die Geräte erfassen nicht nur, welche Bücher gekauft, sondern auch welche Seiten gelesen, welche angestrichen werden oder wie viel Zeit ein Leser mit einem Buch verbringt.
Noch landen diese Daten bei Amazon, Apple und Google, also den Firmen, die mit ihren Geräten die Hard- und mit ihren Shopsystemen die Software bereitstellen. Und diese halten sie – mit Ausnahme der meistangestrichenen Stellen auf Amazons Kindle – unter Verschluss. Das könnte sich jetzt aber ändern: »Wenn E-Book-Shops die Daten als Geschäftsmodell für sich entdecken und sie den Verlagen, z. B. gegen Rabatte, zur Verfügung stellen«, sagt Max Franke von der Self-Publishing- Plattform E-Publi. Jim Hilt, beim US-Buchhändler Barnes & Noble für den E Reader »Nook« verantwortlich, hat angekündigt, Lesedaten mit den Verlagen teilen zu wollen: »Wenn wir den Autoren helfen können, noch bessere Bücher zu schreiben, haben alle etwas davon.« Die Beliebtheit von Fernsehsendungen lässt sich durch die Einschaltquote und die Quotenkurve messen. Die Quotenkurve zeigt auf die Sekunde genau, wann wie viele Zuschauer wegschalten.
Einschaltquoten gibt es auch auf dem Buchmarkt – die Verkaufszahlen. Nun kommt also das Pendant zur Quotenkurve hinzu. Für Kulturpessimisten klingt das grauenhaft: Werden die Stellen aus dem »Zauberberg« gestrichen, die am häufigsten übersprungen wurden? Wohl kaum. Klassiker werden vor allem gekauft, weil sie Klassiker sind. Und selbst wenn: Wer würde sich über eine zusätzliche, knackige Version des »Zauberbergs« nicht freuen? Viel wahrscheinlicher ist ohnehin, dass neue spannende Bücher und Formate entstehen. Bei Amazon, das mit den Lesedaten des Kindle schon jetzt Dauermarktforschung betreibt und immer mehr selbst zum Verlag wird, hat man »Singles« auf den Markt gebracht: Essays, die für ein gedrucktes Buch zu kurz wären, als EBook aber toll funktionieren. Denn lange Sachbücher, das zeigen die Lesedaten, werden besonders oft und früh abgebrochen. Auch denkbar:
Ein Autor sieht, welche Stellen in seinem Buch angestrichen werden, und widmet sich in einer Folgeausgabe diesem Aspekt intensiver, stellt Zusatzinformationen bereit und so weiter. Wir kennen Bücher als etwas Statisches. Aber vielleicht werden Bücher wie Apps, die sich von Version zu Version aktualisieren? Früher konnte man anhand von Eselsohren oder Textmarkerstrichen sehen, wie ein Freund ein Buch gelesen hat. In Zeiten des E-Books brauchen wir andere Indikatoren. Hoffen wir, dass wir an diesen Informationen teilhaben.
Text: Christoph Koch
Erschienen in: NEON
Mmh, das Essay über die Auswirkungen dieser Speicherdaten finde ich ganz spannend, und im Gründe meines Herzens mache ich mir Sorgen.
Aber: Wenn momentan von den 25 Most higlighted Passages neunzehn aus den Hunger Games Büchern stammen, schwinden meine Sorgen sehr schnell. Riecht für mich momentan noch nach Sparteninfo.
Habe seit einem Jahr einen Kindle, sicher schon fünfzig Bücher drauf gelesen und noch nicht ein Lesezeichen gesetzt.
Noch betrifft das Thema in der Tat vermutlich eher wenige. Aber je mehr sich e-Reader ausbreiten und je mehr Menschen von der Markierungsfunktion Gebrauch machen, umso interessanter werden natürlich die Daten.
Außerdem geht es ja auch um Daten, die gar nicht bewusst eingegeben werden. Zum Beispiel: Welche eBooks werden gekauft, aber nie „aufgeschlagen“? An welcher Stelle hören überdurchschnittlich viele Leser zu lesen auf? Diese „passiven“ Daten sind ja sogar in der Hinsicht interessanter, als dass sie nicht durch soziale Erwünschtheit verfälscht werden (ich streich mal was an, das klug klingt und empfehle etwas, das mich gut aussehen lässt), sondern tatsächlich die Leserealität abbilden.
„Und selbst wenn: Wer würde sich über eine zusätzliche, knackige Version des »Zauberbergs« nicht freuen?“
Ich. Das ist nämlich totaler Bullshit. Ein langes Buch ist ein langes Buch, es gehört gerade beim Zauberberg fast auch inhaltlich dazu, dass man lange hängen bleibt. Wie der Protagonist auf dem Zauberberg eben. Eine ‚knackige Variante‘ eines Klassikers ist Kindergartenquatsch für Menschen mit ADS.
„Viel wahrscheinlicher ist ohnehin, dass neue spannende Bücher und Formate entstehen. Bei Amazon, das mit den Lesedaten des Kindle schon jetzt Dauermarktforschung betreibt (…)“
Die Kulturpessimistenvariante: Viel wahrscheinlicher ist ohnehin, dass solche dicken Wälzer nicht mehr auf den Markt kommen. Bei Amazon, das jetzt schon erforscht, was viel gelesen wird, ist man schon darauf aus, Bücher so zu optimieren, dass sie einen Massengeschmack treffen. Mit Literatur hat das freilich immer weniger zu tun, aber dafür werden diese Bücher nicht von den Lesern in die Ecke geworfen. Überforderung ist nicht gut, da wird der Leser sauer.
Die kulturpessimistische Variante des Texts hatte ich schon so oft gelesen, dass ich sie nicht noch mal schreiben wollte.
Wenn es jemand schafft, den Zauberberg in einen dreiminütigen Cartoon mit Hiphop-Soundtrack zu gießen und sich genügend Leute finden, denen es gefällt: Warum nicht? Das Original wird dadurch ja nicht verschwinden. Gerade bei eBooks ist z.B. shelf space ja kein Thema mehr.
In diesem Sinne: „Mehr Freunde, mehr Verbündete – mehr von allem! Hängt die, die von weniger reden!“ (Martin Prince)
Cartoon mit HipHop-Soundtrack? Wäre ich sofort dafür.
Aber kurze oder Hipster-Version eine Originaltextes ist doch anders gelagert: In dem Fall würde die neue Version das Original „kannibalisieren“, weil es exakt dasselbe Medium ist. Der Irrtum in dem Fall ist, dass es in Literatur nur auf dem Plot ankommt, was nicht falscher sein könnte.
Aber wie gesagt: Das Schlimmere sind ja eher die Auswirkungen für die Zukunft. Stell Dir vor, da draußen sitzt irgendwo der deutsche Thomas Pynchon. Ich bin mir heute schon nicht sicher, ob er einen Verlag finden würde, natürlich weil „sowas verkauft sich nicht“.
Oder anders gefragt: Wollen wir wirklich diese Art von Quote für die Literatur jetzt auch beim Inhalt einführen? Man sieht ja generell, was Quoten anrichten (Beispiele: Fernsehprogramm, Musikcharts). Mir grauts ehrlich gesagt immer vor solchen Entwicklungen, die den Charts messen und sich daran orientieren, denn Charts ist nur ein anderes Wort für „Durchschnitt“.
Die Charts gab es ja schon vorher (=Bestsellerliste), nur dass sie sich ausschließlich am Verkauf orientierten. Jetzt kommt die Info dazu, was die Leser wirklich lesen, was sie besonders mögen oder wo sie aussteigen. Letzteres zum Beispiel kann ja auch simple handwerkliche Gründe haben (unverständliche Sachbuchstelle, zu viele Details oder logische Brüche), deshalb wäre es aber wichtig, dass auch die Autoren an die Infos kommen, nicht nur Amazon oder Apple.
Was Charts generell betrifft, so sind wir im Digitalen ja immer unabhängiger davon. Der alte Platten- oder Buchladen musste immer auf Massengeschmack setzen, da der Platz begrenz und die Logistik für den Long Tail zu aufwändig und teuer war. Als eBook-Leser kann man auch die unpopulärsten Spezialsachen finden, weil man nicht mehr auf die Vorauswahl von Händler oder Großverlag angewiesen ist (als nächster Pynchon dank Selfpublishing, das digital viel besser funktioniert, übrigens auch nicht).