Für seine Filmdokumentation „Kumaré“ verwandelte sich der US-Regisseur Vikram Ghandi in einen Guru. Mit einer fiktiven Heilslehre und erfundenen Ritualen täuschte er seine Jünger, die trotzdem stetig mehr wurden – bis er am Ende alles aufklärte. Ein Interview über Glauben und Leichtgläubigkeit.
Bevor Sie in die Rolle eines Gurus geschlüpft sind, hatten Sie begonnen, eine andere Dokumentation zu drehen. Was war das für ein Film?
Ich bin Hindu, meine Familie stammt aus Indien, aber ich bin in den USA geboren und aufgewachsen. Als ich etwa zwanzig war, explodierte die Yogaszene. Jeder machte auf einmal Yoga, meditierte, wurde Buddhist – es entstand eine Art Spiritualitätsindustrie. Ich konnte nicht verstehen, wie enthusiastisch sich die Leute einer ihnen völlig fremden Kultur verschreiben konnten. Zu sehen, wie religiöse Symbole, die ich aus meiner Kindheit kannte, plötzlich zu Marketinglogos für Yogafirmen wurden, die dadurch authentisch wirken wollten – das fand ich schlimm. Ich fing also an, eine Dokumentation über Yogalehrer und Gurus und die Macht zu drehen, die sie über andere haben.
Diese Interviews machen auch die ersten Minuten von »Kumaré« aus. Was haben Sie aus diesen Begegnungen gelernt?
Dass die meisten dieser Leute sich den ganzen Scheiß, den sie erzählen, einfach nur ausdenken. Also fragte ich mich: Was passiert wohl, wenn ich mir selbst etwas ausdenke? Und so erfand ich Kumaré und schlüpfte in seine Haut: ein indischer Guru, der nach Amerika kommt. In dieser Rolle wurde ich die Hauptfigur meines eigentlichen Films.
Als Kumaré tragen Sie ein wallendes rotes Gewand, lange Haare, Vollbart und einen Stab. Wie haben Sie diese Figur entwickelt?
Kumaré basiert auf verschiedenen Vorbildern: Das gebrochene Englisch, das er spricht, ist der Akzent meiner Großmutter. Der Look ist inspiriert von anderen Gurus und Swamis, die ich bei meiner ersten Recherche getroffen hatte. Lange Haare und Vollbart gehören einfach zum Klischee des erleuchteten Weisen.
Wie haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet?
Ich bin Regisseur und habe keinerlei Schauspielerfahrung, also war mir schon ein wenig mulmig, ob ich so etwas glaubhaft durchziehen könnte. Aber ich mache Yoga, seit ich ein Kind bin, also hatte ich zumindest Erfahrung mit den Übungen und Bewegungen. Ich dachte mir eine Biografie für Kumaré aus und seine »Lehre«, die eigentlich nur aus Alltagsweisheiten besteht, die ich ins Sanskrit übersetzte. Ich erfand ein geschwungenes Symbol, das irgendwie indisch aussieht, aber letztlich nichts bedeutet.
Wir legten eine Website für ihn an, luden auf Youtube ein Video hoch und kauften uns ein paar tausend Views, damit es authentisch wirkt. Dann machten wir einen Testlauf: In New Jersey kündigte ein Yogastudio einen Kurs mit »dem indischen Guru Kumaré« an. 150 Leute kamen, und ich merkte schnell, dass sie mir die Sache komplett abkauften. Sie wiegten sich hin und her, wenn ich es ihnen sagte, und ich spürte, wie kraftvoll diese ausgedachte Figur war. Wie sehr die Leute an mich glauben wollten.
Für das eigentliche Experiment haben Sie ein Haus in Arizona gemietet und nach Jüngern gesucht. Was für Menschen kamen zu Ihnen?
Ein bisschen mehr Frauen als Männer. Ansonsten war es sehr unterschiedlich: Die Menschen kamen aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten – das Einzige, das sie gemeinsam hatten, war, dass sie an einem Punkt in ihrem Leben waren, wo sie sich dringend nach einer Veränderung sehnten. Eine Frau wollte ihre Schulden loswerden, bei anderen hatte ich den Eindruck, sie wollten einfach, dass ihnen mal jemand zuhört. Aber es waren alles ganz normale, anständige Leute, keine Freaks. Manche hatten schon andere Gurus getroffen, andere nicht. Manche machten Yoga, andere nicht. Manche kamen auch nur einmal und verschwanden dann wieder. Aber nach einer Weile bildete sich ein harter Kern von einem guten Dutzend Leuten, die immer wiederkamen.
Was haben Sie ihnen erzählt? Was war die Botschaft von Kumaré?
Das war ein extrem wichtiger Punkt für mich: Auch wenn alles einerseits ein Schwindel war, so bestand der entscheidende Trick am Ende darin, dass meine Lehre wahrhaftig war. Ich habe nie gesagt, ich könnte heilen oder Wunder bewirken. Ich habe nur Dinge gesagt wie »Du musst an dich glauben« oder »Du musst selbst herausfinden, wer du bist« und so weiter. Ganz einfacher Selbsthilfekram. Ich habe Slogans wie »Just do it« von Nike oder »Be All You Can Be« der US-Armee einfach ins Sanskrit übersetzt – das waren meine Mantras. Wir haben Atem-, Meditations- und Yogaübungen gemacht, und alles, was die Menschen an Wirkung gespürt haben oder was sie in ihrem Leben verändert haben, kam aus ihnen selbst. Das habe ich ihnen auch immer wieder gesagt.
Würden Sie also sagen, Sie haben sie gar nicht angelogen?
Ich habe ihnen sogar immer wieder gesagt: »Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet. Ich gebe euch keine Kraft, die Kraft ist in euch.« Oder: »Ich komme aus einem Land, das nur in meinem Kopf existiert.« Aber die Leute dachten wohl einfach nur, das wäre sehr philosophisch.
Trotzdem haben Sie ihnen eine Rolle vorgespielt. Haben Sie sich gar nicht schuldig gefühlt?
Ehrlich gesagt: nein. Ich würde mich eher schuldig fühlen, wenn ich ein schlecht ausgebildeter Yogalehrer wäre, der seinen Kunden das Geld aus der Tasche zieht. Ich wusste, dass ich mit diesem Experiment etwas beweisen würde. Dass es um mehr ging als um einen Gag, mit dem man ein paar Idioten vorführt. Und wenn man das weiß, dann darf man nicht zaudern. Dann muss man es durchziehen, ohne Schuldgefühle.
Wenn man von Ihrem Experiment hört oder den Filmtrailer sieht, kommt erst mal Schadenfreude auf: Man kann sich über ein paar leichtgläubige Trottel lustig machen.
Ich glaube, wie man auf das Experiment reagiert, sagt viel darüber aus, wie man selbst zum Thema Glaube und Spiritualität steht. Aber selbst wenn man sich über die Naivität meiner Jünger amüsiert und einen sehr zynischen Standpunkt einnimmt, funktioniert das nur eine Zeit lang. Dann dreht sich der Film. Es geht eben nicht nur darum, Menschen reinzulegen, es geht um etwas viel Positiveres, Wichtigeres.
Ich könnte keinen fiesen Film machen, der Menschen vorführt. Deshalb habe ich auch als Kumaré auch nie einen Satz gesagt, den ich nicht selbst glaube. Oder habe meine Jünger irgendwelche demütigenden Sachen machen lassen, um zu sehen, wie weit sie gehen.
Stattdessen haben Sie zum Beispiel zusammen einen brach liegenden Garten umgegraben. Haben Sie jemals gedacht: Ich mache das Leben dieser Leute wirklich besser – also bin ich vielleicht am Ende ja tatsächlich ein Guru?
Diese Leute haben ihr Leben selbst verändert. Eine übergewichtige Frau hat in der Zeit mit mir 35 Kilo abgenommen – aber das war nicht ich, das war sie selbst. Eine andere hat endlich den Mut gefunden, eine Ausbildung zu beginnen, die sie schon lange in Angriff nehmen wollte. Ein Guru ist ja ursprünglich jemand, der sich im Ashram um die Kinder kümmert und sie unterrichtet. Heute stellen wir uns unter einem Guru eine Art Celebrity vor, die uns befiehlt, wie wir leben sollen, und der wir wie Schafe folgen. Was für ein Unsinn!
Der Höhepunkt des Films ist der Moment, in dem Sie den Schwindel auflösen. Hatten Sie Angst davor?
Oh ja! Und im Film sieht man auch, dass ich zwei Anläufe dafür brauche.
Sie rasieren sich also den langen Bart ab, stutzen sich die Haare und sehen in Jeans und T-Shirt wieder aus wie der Regisseur, der Sie vorher waren. Wie haben Ihre Jünger reagiert?
Sie waren natürlich geschockt, als ich plötzlich normales Englisch mit ihnen geredet habe. Einige hatten Tränen in den Augen. Aber als ich ihnen erklärt habe, dass ich sie nicht reinlegen, sondern ihnen nur auf drastische Art beweisen wollte, dass sie keinen Guru brauchen, sondern nur sich selbst, haben es die allermeisten verstanden. Viele sind mir um den Hals gefallen, aber einige haben den Raum verlassen.
Sind Sie heute noch mit ihnen in Kontakt?
Mit fast allen. Eine Yogalehrerin, die eine begeisterte Anhängerin von Kumaré geworden war, hat kein Wort mehr mit mir gesprochen, seit ich meine Verkleidung abgelegt habe. Aber sie unterrichtet immer noch die Weisheiten von Kumaré.
Wie haben Sie das Leben Ihrer Jünger rückblickend verändert?
Ich würde sagen, dass jeder aus der Gruppe eine positive Veränderung durchgemacht hat – sowohl durch die Zeit mit mir als auch durch die Enthüllung, dass ich kein Guru bin. Die Frau, die in der Zeit mit mir 35 Kilo abgenommen hat, hat danach noch mal 15 Kilo abgenommen. Andere haben sich riesig gefreut, einen Filmemacher kennenzulernen, und sehen mich jetzt eher als Freund. Ich habe heute erst wieder mit einem telefoniert, der einfach wissen wollte, wie es mir geht und wie der Film sich so an der Kinokasse macht.
Ist Ihrer Meinung nach jede Form von Religion eine Maskerade, ein Schwindel?
Fast jede organisierte Religion ist eine absurde Fiktion und hält uns eher zurück, als uns weiterzubringen. Die modernen Ersatzreligionen wie Selbsthilfebücher, Yoga oder die New-Age- Industrie haben gute Ansätze – aber am Ende sind sie auch oft eine Falle, da sie uns manipulieren und uns vorgaukeln, man könnte Spiritualität kaufen oder im Zehnerpack buchen.
Und Technik? Hat auch sie das Zeug zur Religion?
Für immer mehr Menschen ist sie das sicherlich schon. Man muss sich nur ansehen, wie Steve Jobs als eine Art Guru gefeiert wurde. Aber am Ende ist Technik auch nur ein Hamsterrad: Wir haben ein Problem, also erfinden wir etwas, das dieses Problem löst – aber dadurch ein neues Problem erzeugt. Am Ende ist es so weit, dass Leute in ein Yogacamp fahren und viel Geld dafür bezahlen, dass jemand sie zwingt, ihr Smartphone auszuschalten.
Aber ist es nicht unumgänglich, dass sich Menschen nach Orientierung sehnen – ob sie nun an Jesus, an Steve Jobs oder an die Kraft der Meditation glauben?
Natürlich wollen wir alle eine Art Kompass. Und natürlich ist es toll, wenn wir etwas haben, an das wir glauben können. Wenn wir jemanden finden, der uns den Weg weist. Aber dann ist es wichtig, dass er uns auch verrät, wie wir den Weg alleine weitergehen können. Ich glaube, die einzig wahren Gurus sind die, die andere dazu inspirieren, der eigenen Stimme zu folgen.
Vikram Gandhis Film „Kumaré“ hat den Publikumspreis beim renommierten SXSW-Festival gewonnen.
Interview: Christoph Koch
Erschienen in: NEON
Fotos: Kino Lorber
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