DONNERSTAG
Du bist Hals über Kopf verliebt. In ein Brötchen. Überreicht hat es dir ein tätowierter Mann mit schwarzen Handschuhen und ernstem Blick, der versprach: »Dein Leben wird nicht mehr dasselbe sein.« Das Brötchen ist vollgestopft mit Schweinebauch, dünnen Apfelscheiben und Barbecuesoße, aber das ist gar nicht das Entscheidende. Deine Liebe gilt dem Brötchen selbst: Es ist außen kross und innen weich, trotzdem nicht pappig, leicht durchtränkt von Bratensaft. Du sagst der kleinen Frau, die neben dir steht, dass du dieses Brötchen gerne heiraten würdest. Die Frau lacht und freut sich, denn sie war es schließlich, die dich und das Brötchen zusammengebracht hat. Kavita Meelu, so heißt die Frau, hat indische Eltern und ist in Birmingham aufgewachsen: »In Berlin habe ich die Food-Trucks und die Märkte, die ich aus meiner Heimat kannte, sehr vermisst.«
2013 gründete Meelu deshalb mit einigen Mitstreitern den ersten Streetfood-Markt Berlins. »Wir hofften auf 2000 Besucher — am Ende kamen über 10.000«, erzählt sie. Der »Street Food Thursday« findet seitdem jeden Donnerstagabend in der Markthalle Neun in Kreuzberg statt und hat zum Glück wenig mit dem herkömmlichen To-go-Fraß zu tun, den man in den Städten sonst so serviert bekommt. Meelu hatte zuvor schon den Kochklub »Mother’s Mother« gegründet, der so heißt, wie er heißt, weil dort Menschen die Geheimrezepte ihrer Großmütter kochen, und veranstaltet regelmäßig die Party »Burgers & Hip Hop«.
Du gehst staunend und glücklich durch die engen Gänge des Marktes. Du siehst einen asiatischen Koch, wie er eine Teigmasse auf eine Platte schlägt, sie zwischen seinen ausgestreckten Armen dehnt und mit wenigen Handgriffen in Nudeln verwandelt. Du probierst Ceviche, Grüntee-Eis und knusprige Ramen-Burger, du siehst Food-Blogger aus Schweden, England und Spanien, die sich mit riesigen Kameras um die dampfenden Töpfe und Pfannen drängen, um die Geschichte von der kulinarischen Auferstehung Berlins hinauszutragen in die Welt. Streetfood, das bedeutete hier lange Zeit doch ausschließlich: Döner, Currywurst, Pommes, Falafel. Jahrzehntelang gab es keine Innovation auf den Speisekarten, aber seit einiger Zeit ist das anders. Wer heute für ein Wochenende nach Berlin fährt, macht eine Reise, die einen nach Asien führt, nach New York City, in die Provence, aufs grüne Land und — ausgerechnet — ins eigentlich verhasste Schwaben.
FREITAG
Du beginnst den Tag mit den perfekt gebackenen Spinat-und-Käse-Gözleme von Chez Su, einem der ältesten Stände auf dem Türkenmarkt am Kreuzberger Maybachufer. Du sitzt auf dem kleinen Grünstreifen am Wasser, neben dir kiffen ein paar Backpacker, hinter dir werden neben Oliven, Ziegenkäse und Sesamringen auch Stoffballen und Gaskartuschen verkauft. »WassermeloneSEHRsüßhierBITTE …«, schallt es rüber von den Ständen.
Nach einem kurzen Fußmarsch erreichst du in einem Fabrikhinterhof das Start-up Infarm, mit dem die Brüder Erez und Guy Galonska gemeinsam mit ihrer Teilhaberin Osnat Michaeli den Lebensmittelanbau in der Stadt revolutionieren wollen. Überall an den Wänden hängen Behälter, in den kleine Sprösslinge ranken. Statt in der Erde stecken die Lauch-, Salat- oder Kohlpflanzen hier in Hydrokulturen und Hanfknäueln. Durch leistungsstarke LEDLeuchten und Biodünger wachsen die Pflanzen deutlich schneller als auf dem Feld, erzählt Erez Galonska. Energieverschwendung, denkst du im ersten Moment, aber dann erklärt dir Erez, wie viel Energie aufgewandt wird, um das Grünzeug vom Acker in die Supermärkte der Stadt zu bringen: »Bis dein Essen auf deinem Teller landet, geht es durch 28 Paar Hände und hat 1500 Kilometer hinter sich — eine ungeheure Energieverschwendung«, sagt der Israeli. »Diese Kette wollen wir abschaffen und dabei helfen, Nahrung dort wachsen zu lassen, wo die Menschen leben.«
Auf ein ähnliches Konzept stößt du am nahe gelegenen Moritzplatz. Auf einer ehemaligen Brachfläche baut das »Prinzessinengärten«-Kollektiv dort Obst und Gemüse an. Dein Mittagessen in der »Gartenküche«, die die selbst angebauten Lebensmittel täglich frisch zubereitet, besteht aus Couscous mit Tomatencreme, gerösteten Gurken und frischen Bohnen. Du isst in einem kleinen schattigen Hain zwischen schlanken Baumstämmen, gleich neben der Leihbücherei und einem Kräutergarten, in dem man sich Minze für seinen Tee pflücken oder für ein paar Euro frischen Liebstöckel, Rucola oder Kapuzinerkresse zum Kochen mitnehmen kann.
Du merkst: Die Reise durch die Berliner Open-Air-Küchen ist kein rein hedonistischer Gourmettrip, sondern führt dich über verschiedene Stufen des Nahrungsmittelkreislaufs, und beinhaltet auch eine Utopie von einem besseren, gemeinschaftlichen Leben in der Stadt. Links von dir essen zwei Damen mit Sonnenhut und Goldschmuck, rechts ein gepiercter Fahrradkurier. In den »Prinzessinnengärten« gibt es regelmäßige Gartenarbeitstage, an denen gemeinsam gesät, pikiert und gejätet wird, Balkongärtner können Saatgut und Erde mitnehmen. Und das alles auf einem Gelände, das bis vor fünf Jahren noch eine vergessene und vermüllte Brache war.
Damit es nicht allzu gesund wird, steuerst du am Nachmittag den koreanischen Imbiss Ban Ban Kitchen in Neukölln an. »Ban ban« ist Koreanisch für »halb und halb« und steht sowohl für die gemischte Herkunft der Betreiber als auch für die Küche, die sie anbieten und die modernes Fast Food mit traditioneller koreanischer Küche kombiniert. »Kimchi ist die Geheimwaffe der koreanischen Küche«, sagt Linh Vu, die den Imbiss gemeinsam mit Mark Roh in einer kleinen Baracke neben einem Autohändler betreibt. »Am Anfang finden viele den scharfen, vergorenen Kohl komisch aber dann werden sie süchtig danach.« Du bestellst einen Nori Taco, der hier nicht in Maistortillas, sondern in knusprigen Algenblättern serviert wird, und unfassbar gute Kimchi-Pommes mit Sesam-Majo.
Berlins Koch- und Restaurantszene, das wird dir mit jedem Bissen klarer, befindet sich in einem ähnlichen Prozess, wie ihn die Club- und Kunstszene vor zehn bis zwanzig Jahren so erfolgreich durchlaufen hat: Brachflächen besetzen, Nischen finden, improvisieren. Die illegalen Kellerclubs sind größtenteils verschwunden, die einstigen Hinterhofgalerien zu internationalen Playern geworden und die Mieten steigen und steigen. In vielen Bereichen sind das Behelfsmäßige, die Freiräume und Umnutzungen, die Berlins Reiz so lange ausgemacht haben, komplett verschwunden. In der Streetfood-Bewegung jedoch erlebt der damit verbundene Wunsch nach Selbstbestimmung und Freiheit gerade eine spannende Renaissance.
SAMSTAG
Nach einem himmlischen French Toast auf dem Gehsteig vor dem Neuköllner Café California Breakfast Slam machst du dich auf den Weg zum »Bite Club«. Das zweite große Streetfood-Treffen der Stadt wird von Tommy Tannock organisiert. Ein knappes Dutzend Essensstände und Food-Trucks steht im Halbkreis hinter der aus Schiffscontainern gebauten Platoon Kunsthalle. Der »Bite Club« hat gerade erst geöffnet, und Tommy hilft, wo er kann, rennt zwischen den Ständen hin und her, wechselt ein paar Scheine in Kleingeld, räumt mit der Thekenkraft an der Whiskybar die Gläser um, organisiert eine Leiter, eine Rolle Klebeband, eine Schere was immer nötig ist, damit die Show beginnen kann. »Die Berliner Start-up-Kultur hat enorm geholfen, die Streetfood-Szene hier anzuschieben«, sagt er, als du ihn fragst, warum die Stadt so lange nichts anderes kannte als Currywurst und Döner und jetzt plötzlich alles so schnell geht. »Essen in Gourmetqualität aus einem ehemaligen UPS-Lieferwagen serviert zu bekommen, hat sich durch die Internetbranche von Kaliforniens Silicon Valley in die ganze Welt ausgebreitet.« In den USA alleine zuckeln geschätzte 15.000 Food-Trucks durch die Großstädte. Einer der erfolgreichsten von ihnen, »Kogi BBQ«, hat rund 130 000 Twitter-Follower. Tommy führt dich herum und zeigt dir den »Heißen Hobel« und das »Bunsmobile«, zwei der schönsten Berliner Food-Trucks. Im »Heißen Hobel« demonstriert Florian Rohrmoser gerade, woher der Name kommt: Vorsichtig streicht er Spätzleteig durch eine löchrige Metallplatte den »Hobel« in einen Topf mit kochendem Wasser. Nach etwa einer Minute fischt er die fest gekochten Teigtropfen aus dem Wasser, schwenkt sie kurz in einer Schüssel in drei Sorten geriebenem Käse, bestreut sie mit Röstzwiebeln und Schnittlauch – fertig. »Ein bisschen Nudelwasser muss man untermengen«, sagt Florian Rohrmoser, als er dir die Schale über den Tresen schiebt, »das habe ich von meiner Oma gelernt, sonst wird es zu trocken.« 2000 Euro haben er und seine Freundin Myriam Touka für einen alten DDR-Wohnwagen bezahlt, den sie in Eigenarbeit umgebaut haben. »Ein Restaurant würde eine viel höhere Investition bedeuten«, sagt Florian. »Außerdem muss man sechs oder sieben Tage die Woche geöffnet haben, damit es sich rechnet.« Die Gourmetspätzle aus dem DDR-Camper gibt es dagegen nur an ungefähr vier Tagen pro Woche.
Du bist traurig, weil du jeden Tag die schwäbischen Spätzle essen könntest. Im Gespräch mit Pablo, dem Betreiber des »Bunsmobile«, erfährst du, dass die flexiblen Öffnungszeiten weniger mit den zu kleinen Budgets oder der mangelnden Arbeitsmoral in der Streetfood-Szene zu tun haben, sondern mit dem deutschen Ordnungsamt und etwas namens »Reisegewerbekarte«. Pablo ist Frankokanadier und arbeitete mit seiner Freundin Mathilde in der Edelgastronomie Südfrankreichs, als den beiden die Idee kam, ein Food-Start-up in Berlin zu eröffnen und die Menschen mit Avocado-Hamburgern und Pulled-Pork-Sandwiches zu versorgen. »Wir haben auf eBay einen originalgetreuen Food-Truck der US-Army gefunden, der hier in Tempelhof stationiert war«, erzählt Pablo, während er zwei Hackfleischklumpen auf den Grill wirft. »Da war uns klar: Das ist ein Wink des Schicksals! Aber wir mussten lernen, dass man sich hier in Deutschland nicht einfach so an den Straßenrand stellen und Essen verkaufen darf.« Erlaubt ist das nur auf Privatgrund — auch deshalb sind Veranstaltungen wie der »Street Food Thursday« oder der »Bite Club« für die Szene so wichtig. Pablo sagt: »Sie ziehen aber auch einfach viel mehr Gäste an, als wenn man sich alleine irgendwo hinstellen würde.« Du blickst dich in der Menge um, siehst Provinzpaare, Bildungsreisende, Schulklassen, Junggesellenabschiede, Segway-Opfer und Mitglieder der globalen Hipstergemeinde, Touristen, die die Streetfood-Szene längst in ihr Programm aufgenommen haben. Du verstehst das. Die Chili-Koriander-Gewürzmischungen sind deutlich interessanter als Checkpoint Charlie und der ewige Alex.
Am Nachmittag besuchst du am anderen Ende der Stadt eine ganz besondere Sehenswürdigkeit. Im Preußenpark, der im beschaulichen Stadtteil Wilmersdorf liegt, breiten Dutzende von Thailänderinnen jedes Wochenende ihre Decken, Gaskocher und Sonnenschirme aus und kochen traditionelle südostasiatische Gerichte. Du hast erst Angst, dass du den Markt in dem Park nicht findest, aber der Duft von geschmortem Rindfleisch, reifen Mangos und Röstzwiebeln weist dir den Weg. Du schlenderst zwischen den Parkküchen umher und lässt dich schließlich mit einem frisch gestampften Papayasalat und dem besten Mango-Klebreis, den man außerhalb von Bangkok bekommen kann, auf der großen Wiese nieder. Dort sitzen über hundert andere glückliche Kunden, teilen sich Wasserpfeifen, jemand lässt sich von einer stämmigen Thailänderin den Rücken durchkneten. Jung und Alt, schwul und hetero, Hipster und Hertha-Fan sitzen hier beisammen. Gerade in Berlin, das sich sonst so gerne nach Kiezen, Szenen und Stämmen separiert, ist das eine Seltenheit. »Hier, probier eine Krabbe«, sagt Will, der sich neben dir im Gras niedergelassen hat. Will stammt aus Großbritannien, lebt jedoch ebenso wie sein australischer Kumpel James schon seit Jahren in Berlin. Zögernd nimmst du die frittierte, etwa tischtennisballgroße Krabbe und beißt krachend eines ihrer Beinchen ab. »Das Thai-Picknick hier gibt es seit ungefähr zwanzig Jahren«, weiß James. »Es fing tatsächlich als privates Picknick von ein paar Thai-Familien an und wuchs dann immer weiter.« Inzwischen macht das Ordnungsamt regelmäßig Ärger, denn natürlich wird hier ohne Hygieneaufsicht, Gewerbeschein und Steuererklärung gekocht. »Da kann man doch aber auch mal ein bisschen tolerant sein«, findet Marek und macht sich ein Bier auf. Er sitzt neben seiner thailändischen Frau, die Würstchen und Garnelenspieße verkauft. »Am Ende des Abends liegt hier kein Fitzel Müll rum«, sagt er. »Das wird alles sauber und ordentlich hinterlassen. Da brauchen wir kein Amt für.«
Dass die Berliner Bürokratie nicht auf einen großen »Verboten!«-Stempel zu reduzieren ist, sondern auch erstaunliche Experimente durchgehen lässt, merkst du am Abend, als du auf das oberste Parkdeck der Neukölln Arcaden steigst. Hier befindet sich der Klunkerkranich, die Bar mit dem wahrscheinlich schönsten Ausblick über Berlin. Bienen summen durch Kräuter, die hier in kreuz und quer gestapelten Holzkisten angebaut werden. Ein DJ legt entspannte Minimal-Beats auf. Bierflaschen klirren, Menschen lachen, und je mehr sich die Sonne dem Horizont nähert, umso stärker steigt die Instagram-Frequenz. Noch vor ein paar Jahren hätte man an einem derart hippen Partyort entweder gar nichts zu essen bestellen können oder hätte allenfalls vom Barkeeper ein paar Erdnüsse über den Tresen geschoben bekommen. Eine gute Speisekarte und Lust am Kochexperiment waren in Berlin lange Zeit ein Zeichen dafür, dass nur Spießer und Kommerzarschlöcher in den Laden gehen. Heute ist das anders. Im Klunkerkranich zum Beispiel wirbelt ein Pizzabäcker den Teig für Steinofenpizza durch die Luft. In der neuesten Inkarnation der Clublegende Bar 25 wird zwar noch nicht getanzt, das neue Restaurant Fame direkt am Spreeufer ist jedoch schon eröffnet. Und der Partymacher Heinz Gindullis hat gerade seinen legendären Club Cookies geschlossen und konzentriert sich auf seine gastronomischen Projekte Cookies Cream und Chipps.
SONNTAG
Du verabschiedest dich von Berlin mit einem Frühstück im Café Pförtner auf einem alten Fabrikgelände im Wedding. Früher wurden hier die Busse und Bahnen der BVG repariert. In einem ausrangierten Linienbus sitzt eine Gruppe Slowenen, müde, aber aufgekratzt. »Wir waren achtzehn Stunden im Berghain«, erzählen sie stolz. »Wir haben nicht viel geschlafen. Aber es war geil.« Du stellst erleichtert fest, dass die Food-Szene die Party-Szene nicht verdrängt, sondern ergänzt. Und das ist ja auch gut so. Auf dem Heimflug fragt dich der Flugbegleiter, ob du lieber einen süßen oder einen salzigen Snack möchtest, und hält dir Müsliriegel und Laugengebäck hin. Du fängst laut an zu lachen. Denn du bist einem Brötchen aus der Markthalle Neun versprochen. Auf immer und ewig.
Text & Fotos: Christoph Koch
Erschienen in: NEON 8/14
Mehr Fotos von der kulinarischen Reise durch Berlin gibt es hier.