Du musst nicht bis zum nächsten Urlaub warten, um etwas Besonderes zu erleben! Tipps für kleine Alltagsfluchten genial, umsonst, mitten in der Woche.
Im Frühling wirken Büro, Werkstatt und Vorlesungssaal plötzlich wie Großraumgefängniszellen. Draußen scheint die Sonne, es ist lau oder sogar warm, es blühen Bäume, Blumen und Hoffnungen; man könnte jetzt wieder leben, könnte etwas erleben. Stattdessen aber sitzt man auf einem ergonomischen und trotzdem irgendwie unbequemen Stuhl, projektiert Projekte, ordnet einen Ordnerstapel und beobachtet, wie der Minutenzeiger der Uhr die letzte Viertelstunde vor dem Feierabend zusammenschiebt wie einen Fächer. Sommerurlaub und Festival-Wochenenden liegen in weiter Ferne. Bis zum Horizont reiht sich Arbeitstag an Arbeitstag.
Aber es ist falsch, zu denken, dass besondere Erfahrungen nur möglich sind, wenn mindestens ein Brückentag im Spiel ist und man »für ein paar Tage« an einen besonderen Ort fahren kann. Wer acht Stunden am Tag mit Arbeit und Alltagsmanagement verbringt und weitere acht Stunden im Bett, hat immer noch 33 Prozent der Zeit zur freien Verfügung. Und wer sagt, dass man die Frei-Zeit, die nicht umsonst nach Freiheit klingt, mit Spülmaschineausräumen und Netflix-Komaschauen verbringen muss?
Hier gibt es eine Reihe von Micro- Abenteuer vor, mit denen du deine Stadt, die Stunde vor Sonnenaufgang und vor allem – Pardon – dich selbst ganz neu kennenlernen kannst (ohne dass du einen Coach engagieren, die Kreditkarten ausreizen oder eine neue Designerdroge ausprobieren musst). Alles, was du brauchst, sind Zeit, Neugier und die Bereitschaft, dich aus den engen Mauern von Altbauwohnung und Alltagsgewohnheiten herauszubewegen. Es ist verblüffend, wie viel Energie man aus einem Micro-Abenteuer gewinnen kann (auch oder gerade weil man eine Nacht mal nicht auf der Sieben-Zonen-Kaltschaummatratze schläft). Ausreden gibt es sowieso keine: Je weniger du daran glaubst, Zeit für so einen merkwürdigen Quatsch zu haben, desto nötiger hast du ein Feierabenteuer.
1. DAS OPEN-AIR-BETT
Für den Einstieg: Im Sommer die Matratze auf den Balkon oder in den Garten legen und dort schlafen. Hast du als Kind gerne gemacht, macht auch als Erwachsener noch Spaß. Noch spektakulärer und interessanter: Du übernachtest unter freiem Himmel, in der freien Natur, ohne Zelt, Satellitentelefon und Erste- Hilfe-Koffer (anders als wild Campen wird das geduldet). Du brauchst nur einen Schlafsack und einen wasserdichten Überschlafsack oder Biwaksack, die es ab zwanzig Euro zu kaufen gibt. Wer nicht im Stadtpark übernachten will, fährt an einen nahen See oder schaut im Internet auf einer sogenannten Dark-Sky-Karte (darksitefinder.com) nach, wo es nachts in der Region besonders dunkel ist und in einer klaren Nacht besonders viele Sterne zu sehen sind. Dorthin machst du dich auf den Weg und suchst dir in der Abenddämmerung einen abgelegenen Hügel. Wenn es dunkel wird, baust du dein Biwak auf und kriechst hinein. Über dir spannt der Himmel sein Zelt auf, unter dir leuchten in der Ferne ein paar Dörfer oder Städte. Keine Angst. Niemand wird dich stören, niemand wird dich überfallen, denn niemand weiß, dass du da bist. Der wichtigste Tipp: Kein Gepäck! Statt dich morgens mit einem Campinggaskocher rumzuplagen, pack lieber zügig die Sachen zusammen, wenn dich Morgensonne oder Morgennebel wecken und trink im nächsten Ort einen Kaffee. Zähne putzen und frisch machen kannst du dich am Bahnhof oder im Büro. Die Haare werden vermutlich nicht perfekt sitzen, aber dein Kopf ist frei.
2. DER SPRUNG INS KALTE WASSER
Wer den Film »Falling Down« gesehen hat, wundert sich manch mal, warum es nicht mehr Menschen so machen wie Michael Douglas und auf den Pendlerstress mit der Schrotflinte und einem Amoklauf reagieren. Es gibt wissenschaftliche Studien, die belegen, dass nichts der Lebenszufriedenheit so abträglich ist wie das tägliche Pendeln zum Büro: Hupende Menschen im Stau. Schwitzende Menschen in der U-Bahn. Überhaupt Menschen. Aber auch wenn du weder den Mordfantasien nachgeben noch dich im Transitknast weiterärgern möchtest, gibt es eine Lösung: Nutze die Wasserstraßen deiner Stadt! Mit Google Maps findest du leicht heraus, welche Gewässer ungefähr auf dem Weg zur Arbeit liegen. Du nimmst Badesachen, ein Handtuch und einen Plastikmüllsack, packst am Ufer deine Klamotten und ein Handtuch in den Plastiksack und knotest ihn fest zu. Handy, Wertsachen und wichtige Dokumente sollte man in einem wasserdichten Beutel verstauen, die es in jedem Outdoor-Shop gibt. Und dann geht es los in Seen, Kanälen, Weihern und Flüssen (bei Letzteren solltest du darauf achten, flussaufwärts vom Büro einzusteigen gegen den Strom schwimmen ist ehrenwert, aber aussichtslos). Je nach Fitness und je nachdem wie viel früher du aufstehen möchtest als sonst , dauert der Schwimmausflug zehn Minuten oder eine Stunde. Seine Wirkung zeigt er so oder so. Und auch wenn du in einer Stadt wohnst, in der Wasserqualität oder Schifffahrt den schönen Plan unmöglich machen, gilt keine Ausrede: Dann musst du eben morgens ins Frei- oder Hallenbad. Tut auch gut.
3. DER PERSPEKTIVWECHSEL
Sich auf einen Schreibtisch zu stellen, ist seit John Keating aus »Der Club der toten Dichter« ein probates Mittel, um einen neuen Blick auf die Welt zu bekommen. 25 Jahre später ist es Zeit, einen Schritt weiterzugehen: Such dir einen schönen alten Baum mit ausladenden Ästen und klettere nach Feierabend so weit hinauf, wie du dich traust. Nimm ein Buch, eine Stirnlampe und zwei Bier mit und mach es dir da oben in einer Astgabel bequem. Betrachte deine Umgebung, während sich die Dunkelheit ausbreitet, und wenn es dann ganz dunkel geworden ist, liest du eine Weile in deinem Buch. Du kannst natürlich statt des Buchs einen guten Freund mitnehmen. Dann aber bitte auch vier Bier.
4. DIE MODERNE SCHATZSUCHE
Du kennst deine Stadt wie deine Hosen- und Umhängetaschen? Du hast alles gesehen? Es gibt für dich im urbanen Leben keine Schätze und Geheimnisse mehr zu entdecken? Du hast keine Ahnung oder zumindest noch nie von Geocaching gehört, einer Art GPS-Schatzsuche, die sich durch Smartphones mittlerweile auch Leuten erschließt, die mit Landkarten und ellenlangen GPS-Koordinaten nicht so viel anfangen können. Das klingt im ersten Moment ein bisschen nerdig, macht aber Spaß. Lade dir eine kostenlose Geocaching-App wie OpenCaching oder c:geo runter und fange an, nach sogenannten »Caches« zu suchen, kleinen Dosen oder Schatullen, die andere Geocacher in deiner Umgebung versteckt haben. Meistens gilt es, Rätsel zu lösen oder die Umgebung genau zu studieren, um das Versteck zu lokalisieren. Besonders spannend sind sogenannte »Nightcaches«, die mit Reflektoren oder Lichtsignalen markiert wurden und nur nachts auffindbar sind. Eine Taschenlampe und feste Schuhe sind bei diesen nächtlichen Schnitzeljagden empfehlenswert. Oft wirst du nur über mehrere, durch eine Geschichte verknüpfte Hinweise und Zwischenstationen zu dem finalen Versteck gelangen (solche Caches nennen sich im Fachjargon »Multis«). Und auch, wenn du dir vielleicht beim Lösen von Rätseln an einer nächtlichen Weggabelung manchmal kindisch vorkommst hast du am Ende den Schatz geborgen, bist du für einen Moment ein Held.
5. DIE TOUR DE TOWN
Sport kann man nicht nur im Fitnessstudio machen. Im Gegenteil: Die immer gleichen Übungen zur immer gleicher Musik und zu den immer gleichen N24-Monsterkran-Dokus zu absolvieren, ist ein todsicherer Weg, den Spaß am Sport zu verlieren. Nicht nur für Profisportler ist es wichtig, das Training zu variieren. Fordere deine Freunde zu einem Rennen rund um die Stadt. Dafür brauchst du kein teures Rennrad und keine Funktionskleidung bequeme Klamotten und ausreichend Wasser einpacken und: Los geht’s. Um zu beweisen, dass jeder Teilnehmer wirklich die komplette Strecke absolviert hat, könnt ihr zum Beispiel vorab vereinbaren, dass man bestimmte Plätze, Wahrzeichen oder Kirchtürme fotografieren muss. Wer in einer Großstadt wohnt, bei der eine Stadtumrundung nach Feierabend partout nicht mehr zu schaffen ist, macht ein Rennen zum Stadtrand und zurück. Hauptsache, die Tour endet an einem schönen Ort.
6. DAS TRINK-SPIEL
Jeder Tag besteht aus unzähligen Kreuzungen und Weggabelungen. Und wenn man von den unzähligen Optionen und Abzweigungen immer dieselben wählt, dann nennt man das: Routine. Immer denselben Radiosender morgens im Bad, immer denselben Zwischenstopp bei Starbucks, immer denselben Nachhauseweg von der Arbeit. Nimm dir vor, etwas anderes zu machen. Eine einzige Sache. Geh in diese eine Eckkneipe, an der du sonst immer vorbeigehst, ja, genau, in diesen schon leicht angegammelten Schuppen. Du schaust den Leuten freundlich und offen ins Gesicht und setzt dich an den Tresen. Du plauderst ein wenig mit dem Barkeeper, der hier nicht Barkeeper heißt und ganz sicher nicht »Mixologe«. Er heißt wahrscheinlich einfach Jupp. Oder Horst. Oder Miguel. Lass dich überraschen! Du schaust in die Karte und probierst dann der Reihe nach und ohne Hast alle Schnäpse. Oder so viele Schnäpse, wie du schaffst, ohne vom Barhocker zu fallen und die Geschichten zu vergessen, die man dir an diesem Tresen erzählt.
7. DAS GUTE FEUER
Natürlich kannst du abends schnell eine Pizza oder Sushi kaufen und das Zeug dann gedankenlos vor irgendeinem Bildschirm in dich hineinstopfen. Du kannst aber auch so tun, als ob dich der Frührentner-Lifestyle nicht total im Griff hat. Verabrede dich mit Freunden am Fluss oder auf einer schönen Wiese oder an einem anderen Ort mit ausgewiesener Feuerstelle. Macht ein Lagerfeuer und esst zusammen zu Abend. Gute Grundlage: Stockbrot. Hier ein Rezept für fünf Personen:
- 500 Gramm Mehl
- 1 Beutel Trockenhefe
- 2 Teelöffel Salz
- 2 Teelöffel Öl
- 250 Milliliter Wasser
- eventuell Kümmel, Koriandersamen oder Knoblauch
Die Zutaten verrühren und mindestens eine halbe Stunde ruhen lassen. Dann den Teig portionsweise zu langen Würsten rollen, um einen Stock wickeln und grillen. Entweder direkt vom Stock essen oder vorsichtig ablösen und das hohle Teiggebilde mit irgendwas Leckerem füllen. Danach sitzen alle noch am Lagerfeuer zusammen und fragen sich, warum sie immer gedacht haben, dass man so was nur im Urlaub machen kann. Und wenn die Klamotten am nächsten Tag ein bisschen nach Rauch riechen, dann ist es nicht Zigarettenmuff aus der Hipster-Eckkneipe oder dem Club, sondern das Aroma von Alltagsabenteuer und Wellnesswildnis.
8. DER UNTERGANG
In der Karibik ist das Wasser natürlich am schönsten, warm, klar und voller bunter Fische. Ganz klar der ideale Ort, um den alten Traum von einem Tauchkurs zu verwirklichen. Du hast nun die Wahl, jahrelang auf eine Karibikreise zu sparen und dir ansonsten mit Selbstmitleid und Reisedokus in HD die Zeit zu vertreiben oder in deiner eigenen Stadt abzutauchen. Denn Tauchkurse gibt es natürlich auch in deiner eigenen Umgebung (Informationen zum Beispiel unter: dlrg.de/lernen). Wenn man zum ersten Mal mit Sauerstoffflasche taucht und erlebt, dass man plötzlich unter Wasser atmen kann, ist man ohnehin zu beeindruckt, um auf Details wie Fische oder Korallen zu achten. Abtauchen lohnt sich auch in einem See oder einem Schwimmbecken und im Rahmen eines Schnupperkurses. In manchen Städten gibt es außerdem sogenannte Tauchtürme, die Tauchtiefen von über zehn Metern ermöglichen, in denen du auch lernen kannst, mit höherem Wasserdruck umzugehen. Unter Wasser sind die Regeln von Schwerkraft und weitere Alltagsbeschränkungen außer Kraft gesetzt und das Handy kannst du zum Glück auch nicht mitnehmen.
9. DIE ANDERE SEITE
Von den Endhaltestellen der Bus- und Bahnlinien seiner Stadt kennt man meistens nur: die exotischen Namen, die man unzählige Male gelesen hat, während man auf den Zug wartete, aber trotzdem nicht als reale Orte wahrnimmt, sondern nur als grobe Richtungsangaben. Aber wie sieht es denn wirklich aus an der Krummen Lanke (Berlin), in Mümmelmannsberg (Hamburg) oder in Moosach (München)? Einmal die Woche fährst du deshalb nach der Arbeit nun zu einer Endhaltestelle einer U-Bahn, Trambahn oder Buslinie. Du kannst dich alleine auf den Weg machen, aber interessanter ist es, dich mit Freunden dort zu verabreden. Gemeinsam erkundet ihr das Viertel, das zu eurer Stadt gehört, das aber mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit keiner von euch je betreten hat. Manchmal muss man sich eben ganz geplant in die Planlosigkeit werfen, um neue Dinge zu sehen das wussten auch die französischen Situationisten um Guy Debord, die in den 1950er Jahren legendärerweise mit einem Londoner Stadtplan im Harz unterwegs waren und das Konzept des »Dérive« entwickelten: die Erkundung der Stadt durch zielloses Umherschweifen. Macht es ihnen nach. Lasst euch treiben, fühlt euch verloren und macht euch diese Erfahrung bloß nicht kaputt, indem ihr Foursquare anwerft oder googelt, wo es in dieser Gegend die beste Pizzeria gibt. Vielleicht stoßt ihr, wenn ihr ziellos durch die Straßen schlendert, nur auf das dritt- oder viertbeste Lokal. Aber es ist egal, denn ihr habt diesen Ort selbst entdeckt. Und vielleicht ist ja die Pannacotta dafür eine echte Sensation.
10. DER INDOOR-URLAUB
Das Touristendasein ist nicht etwa so entspannend, weil es der Seele eben guttut, sich mit gotischer Architektur zu beschäftigen oder mehrmals am Tag überteuerten Cappuccino zu trinken. Ein Städteurlaub macht Spaß, weil man keine Termine hat und niemand weiß, dass man in genau diesem Hotel in Zimmer 423 wohnt. Ein Alltagsabenteuer muss deshalb nicht zwangsläufig etwas mit Outdoor-Aktivitäten zu tun haben. Indoor geht genauso gut: Buche dich für eine Nacht in einem Wellnesshotel in deiner Stadt ein. Checke direkt nach der Arbeit ein, nutze Sauna und Spa, bis du vor Entspannung nicht mehr laufen kannst, lege dich im Bademantel aufs Bett und rufe den Zimmerservice. Dann tauchst du entweder für eine zweite Runde in die Wellnesswelt ab. Oder du bist mit Begleitung im Hotel abgestiegen und nutzt die zwanzig Matratzenquadratmeter für Dinge, die hier niemanden etwas angehen. Am nächsten Tag plünderst du das Frühstücksbüfett und kehrst so entspannt und ausgeruht ins Büro zurück, als hättest du gerade einen Kurzurlaub gemacht. Und das Beste: Du warst in keiner Touristenfalle, musstest nicht zehn Kirchen in drei Tagen besichtigen und hast keinen einzigen Urlaubstag verbraucht.
11. DIE NACHTWANDERUNG
Klar, Schlaf ist wichtig. Aber eines ist mindestens genauso klar: Am Ende deines Lebens wirst du dich nicht an die Nächte erinnern, in denen du pünktlich ins Bett gegangen bist und acht Stunden zufrieden geschlummert hast. Du wirst dich eher an die Nacht erinnern, für die du spontan eine Taschenlampe, Zahn bürste, Deo und frische Klamotten in einen Rucksack packst. Du gehst zum Bahnhof und suchst dir einen Regionalzug, der spätabends stadtauswärts fährt. Dann wanderst du aus dem Hinter land zurück in die Stadt. Als Faustregel gilt: Auf ebenem Terrain schafft man etwa fünf Kilometer in der Stunde. Du kannst dir also ausrechnen, wie weit du aus der Stadt rausfahren kannst und trotzdem rechtzeitig am nächsten Morgen bei der Arbeit ankommst. Auf dieser ganz besonderen Pendlerstrecke wirst du einen der besten Sonnenaufgänge deines Lebens sehen, weil du ihn vom ersten zaghaften Funzeln in der Dunkelheit bis zum ersten richtig wärmenden Sonnenstrahl miterlebst (den Wetterbericht solltest du natürlich im Blick haben). Und am nächsten Abend gehst du halt ein wenig früher ins Bett.
Text: Christoph Koch
Erschienen in NEON 5/2015