Schreibtisch, Kloster, Lieblingscafé? Der US-Autor Benedict Carey verrät, an welchem Ort man am besten lernen kann. Und was man tun sollte, wenn man nur noch 24 Stunden bis zur Prüfung hat.
Der wichtigste Lerntipp, den unsere Gesellschaft parat hat, lautet: »Du musst dich anstrengen.« Aber funktioniert das Gehirn wirklich wie der Bizepsmuskel, der durch regelmäßiges Hanteltraining wächst?
Ich habe lange selbst an diese Weisheit geglaubt, denn sie wird ja scheinbar durch die Erfahrung abgesichert. Wenn man oft ins Fitnessstudio geht, wird man kräftiger und wenn man diszipliniert lernt und viel liest, erweitert man natürlich seinen Wissensschatz. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Unser Gehirn ist eine ziemlich rätselhafte Maschine.
Heißt das, jeder Mensch muss diese Maschine auf individuelle Art und Weise warten?
Es erfordert jede Menge Energie, still zu sitzen und sich zu konzentrieren. Manchen Menschen fällt das schwerer als anderen, oft fühlen sie sich sogar schlecht, weil es ihnen unmöglich ist, einen Vormittag lang intensiv französische Grammatik zu pauken. Dabei hat sich herausgestellt, dass Isolation und Konzentration gar keine guten Ergebnisse garantieren. Fast alles, was wir über das Lernen zu wissen glauben, ist falsch. Die Menschen glauben an Folklore und nicht an die Ergebnisse der modernen Forschung.
Können sie dafür ein Beispiel geben?
Ein gängiger Ratschlag lautet, man solle sich einen festen Platz suchen zum Lernen. Ein aufgeräumtes, stilles Kämmerchen. Dabei wissen wir inzwischen, dass es Erfolg versprechender ist, während des Lernens den Ort zu wechseln: mal zu Hause am Schreibtisch zu sitzen, mal auf einer Parkbank oder in einem Café.
Wieso das denn?
Wenn wir etwas lernen, werden die neuen Inhalte mit Informationen aus unserer Umgebung verknüpft, etwa der Lichtstimmung, der Geräuschkulisse und den Gerüchen vor Ort. Wollen wir die gelernten Informationen irgendwann wieder abrufen, erinnern wir uns auch an diese Sinneseindrücke. Es gibt zum Beispiel eine Studie, in der sich Menschen unter Wasser bestimmte Wortpaare eingeprägt haben. Anschließend wurden sie in Gruppen aufgeteilt und an verschiedenen Orten abgefragt. Die beste Gruppe war diejenige, die auch unter Wasser getestet wurde.
Bedeutet das nicht, dass der beste Ort zum Lernen eigentlich der Raum wäre, in dem ich später geprüft werde?
Wenn die Möglichkeit besteht, in dem Prüfungsraum zu lernen, sollte man Gebrauch davon machen. Aber bei manchen Tests weiß man vorher ja nicht, wo sie stattfinden werden. Und außerdem lernen wir nicht nur für Prüfungen, sondern für den Job, die Freizeit, das Leben. Insgesamt ist es also besser, das gelernte Wissen mit so vielen Kontextinformationen wie möglich zu verknüpfen, um es ortsunabhängig in unserem Gehirn zu verankern. Deshalb sollte man in unterschiedlichen Situationen lernen. Und natürlich sollte man nicht nur den Ort variieren, sondern auch die Art der Übungen und das Medium.
Ich möchte endlich eine neue Sprache lernen, Spanisch zum Beispiel. Hilft es mir, wenn ich Vokabeln mal mit einem Buch, mal mit Karteikarten und mal mit einer App pauke?
Genau. Musik hören kann übrigens auch helfen. Die Eltern, die immer schimpften, wenn bei den Hausaufgaben die Stereoanlage lief, lagen falsch. Aber natürlich sollte man sich nicht ausschließlich auf Lyrics und Melodie der Songs konzentrieren. Das wäre kontraproduktiv.
Ich habe mal gehört, dass Mozart die beste Hintergrundmusik zum Lernen ist. Macht Klassik wirklich klüger?
Nein. Dieser Mythos geht auf eine Studie aus den 1980er Jahren zurück, die untersuchte, wie sich Menschen Wörter einprägen. Eine Lerngruppe hörte dabei Mozart, eine Jazz und eine lernte ohne Musik. Nach zwei Tagen wurden die Probanden unangekündigt getestet. Die drei Lerngruppen wurden noch mal unterteilt in jeweils drei Abfragegruppen: Die einen hörten während des Tests Mozart, die anderen Jazz, die dritte Gruppe wurde ohne Musik abgefragt. Die Menschen, die zu Mozart gelernt hatten und Mozart bei der Prüfung hörten, schnitten sehr gut ab und ebenso diejenigen, die während Lernphase und Test Jazz gehört hatten. Besonders interessant ist, dass die Menschen, die in totaler Stille gelernt hatten und auch ohne Musik geprüft wurden, die schlechtesten Ergebnisse hatten. Musik hilft also, es muss aber nicht unbedingt Mozart sein.
Eine andere Sache, vor der Eltern und Lehrer immer gewarnt haben, sind Handys und Internet, die uns von den wichtigen Inhalten ablenken.
Ablenkungen haben ein schlechtes Image, besonders im digitalen Zeitalter, in dem immer mehr Menschen darüber klagen, dass ihre Smartphones es ihnen unmöglich machen, sich zu konzentrieren. Aber auch hier ist die Sache komplizierter. Es ist natürlich nicht besonders hilfreich, wenn man das Lesen eines Texts andauernd unterbricht, um SMS zu schreiben und zu lesen, oder den Professor in der Vorlesung ignoriert, weil der Instagram-Feed interessanter wirkt.
Kann Ablenkung auch einen positiven Effekt haben?
Ja. Beim Problemlösen zum Beispiel. Jeder kennt das Phänomen, dass man sich an etwas festgebissen hat und nicht mehr weiterkommt, egal wie sehr man auch nachdenkt. Und dann macht man etwas anderes oder steht unter der Dusche und plötzlich fällt einem die Lösung ein. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich das Gehirn von einem Muskel stark unterscheidet. Auch wenn wir uns vermeintlich nicht mehr mit dem Problem beschäftigen, arbeitet unser Gehirn im Hintergrund weiter »offline« sozusagen. Unser Gehirn versucht offenbar, das Problem von einer anderen Richtung anzugehen als zuvor. Facebook und andere Zerstreuungen können beim Lernen durchaus nützlich sein.
Das heißt, ich kann beim Lernen ab und zu bei Facebook reingucken?
Damit das Gehirn im Hintergrund an dem Problem arbeiten kann, muss man sich erst eine Weile intensiv damit beschäftigt haben. Wenn man Facebook also nur nutzt, um sich vor dem Lernen zu drücken, ist diese Methode wenig Erfolg versprechend. Aber wenn man eine Weile an einem Problem herumgeknabbert hat, kann man gerne kurz Playstation spielen oder einen Spaziergang machen.
Sind Nickerchen erlaubt?
Klar! Im Schlaf verarbeiten wir neues Wissen. Die neuesten Ergebnisse aus der Schlafforschung zeigen, dass wir in den Tiefschlafphasen neues Faktenwissen speichern. In den Traumschlaf- oder REM-Phasen werden Zusammenhänge verstanden. Wenn man beim Lernen müde wird, sendet einem das Hirn ein Signal, dass es Zeit ist, die Infos sacken zu lassen. Geistige Arbeit ist anstrengend. Das sollte man anerkennen und sich entsprechend verhalten, statt sich krampfhaft wachzuhalten. Todmüde Menschen lernen nichts. Das ist Zeitverschwendung.
Sie haben sich jahrelang mit Hirnforschung und Lernmethodik beschäftigt. Wie würden Sie selbst für eine wichtige Prüfung lernen?
Ganz klar: Mit Tests.
Und was sollen Menschen mit Prüfungsangst machen?
Das ist der entscheidende Denkfehler. In unserer Kultur sind wir darauf getrimmt, eine Prüfung als Schlussstrich und gnadenlose Bewertung zu verstehen. Wer eine schlechte Note bekommt, hat zu wenig gelernt und somit versagt. Dabei sind die Tests die mächtigste und effektivste Lerntechnik überhaupt eine Art Turboversion des Lernens.
Aha.
Nehmen wir an, Sie lernen für eine Klausur über Karl den Großen. Anstatt eine Stunde in Ihrem Geschichtsbuch zu lesen, sollten Sie lieber nur 45 Minuten lesen und anschließend fünfzehn Minuten lang aus dem Gedächtnis so viel wie möglich aufschreiben. Notieren Sie alles, woran Sie sich erinnern. Machen Sie eine Skizze, schreiben Sie Stichpunkte oder ganze Sätze auf alles ist erlaubt! Oder Sie versuchen, einem anderen Menschen die Inhalte beizubringen, die Sie gerade selbst gelernt haben. Das fühlt sich dann zwar nicht an wie ein Test, erfüllt aber eine ähnliche Funktion. Und die dritte Möglichkeit: Sie fassen die Informationen über Karl den Großen in einem Kurzvortrag zusammen. Natürlich ohne dabei ins Buch zu schauen. Dadurch bekommen Sie ein gutes Gespür dafür, was Sie können und wo es noch hapert.
Was steckt hinter dem Konzept der »Vorabtests«, die Sie in ihrem Buch »neues Lernen« erwähnen?
Bei sogenannten Pretests legt man eine Prüfung ab, bevor man sich überhaupt mit dem Material beschäftigt. Am Anfang eines Kurses zum Beispiel, in dem man Spanisch oder segeln lernen will. Natürlich scheitert man kolossal, aber das ist nicht schlimm. Schließlich bekommt man durch den Pretest ein gutes Gefühl für das Sujet, für das Vokabular und dafür, was wichtig ist und was nicht. Und man bekommt einen Anreiz, sich richtig in das Thema reinzubeißen. Schon allein deshalb, weil man beim richtigen Test dann besser abschneiden will. Diese Pretests sind eine ganz neue Lernmethode, die gerade erst erforscht wird. Bislang sind die Ergebnisse sehr vielversprechend.
Viele Menschen schwören darauf, vor einer Prüfung möglichst spät möglichst viel zu lernen. das Wissen sei dann noch frisch. ist das eine sinnvolle Methode?
Es kann durchaus funktionieren, sich den Lernstoff in der Nacht vor der Prüfung in einer Art Druckbetankung einzuverleiben. Aber diese Methode ist ein bisschen so, als würde man einen extrem billigen Koffer mit zu viel Zeug vollstopfen. Für einen Moment hält es und sieht ganz ordentlich aus, aber dann platzen die Nähte und alles fliegt umher. Ich bin aus manchen Uniprüfungen rausgegangen, für die ich die Nacht durchgepaukt hatte, und hatte das Gefühl, den Stoff in exakt diesem Moment wieder zu vergessen. Nun kann man sagen, dass das nicht schlimm sei, weil man die Prüfung ja bestanden hat. Aber wenn das Wissen nicht nachhaltig gespeichert wurde, wird man in Zukunft Probleme bekommen, weil einem die Grundlagen fehlen.
Was empfehlen Sie stattdessen?
Wer wirklich keine Zeit zum Lernen hat, sollte sich die knappe Ressource gut einteilen. Lieber an den vier Tagen vor der Prüfung jeweils drei Stunden lernen als zwölf Stunden in der letzten Nacht. Unter dem Strich investiert man die gleiche Zeitmenge, erreicht aber einen nachhaltigeren Effekt.
Mal angenommen, ich habe noch vier Wochen Zeit bis zur wichtigen Prüfung, will mich aber trotzdem mit möglichst wenig Aufwand vorbereiten. Wie gehe ich vor?
Machen Sie zwischen der ersten und zweiten Lerneinheit eine Woche Pause, um die Informationen sacken zu lassen. Die letzte Einheit sollte kurz vor der Prüfung stattfinden. Dazwischen können Sie so viele Lernphasen einlegen, wie Sie schaffen oder machen wollen. Die Einheiten sollten abwechslungsreich gestaltet sein. Wenn Sie eine Sprache lernen, sollten Sie vermeiden, an einem Tag nur Grammatik zu pauken und am nächsten Tag nur Vokabeln. Mischen Sie die Inhalte gut durch. Außerdem sollten sich Informationsaufnahme und Informationsabgabe abwechseln. In der ersten Hälfte lernt man, dann testet man sich selbst.
Anderes Extrem: Ich habe morgen früh eine Prüfung und so gut wie nichts getan. Soll ich abends lange aufbleiben oder lieber am Prüfungstag früh aufstehen und last minute lernen?
Das kommt auf das Fach an. Wenn Wissen abgefragt wird, zum Beispiel bei einem Französischtest, sind die Tiefschlafphasen in der ersten Nachthälfte wichtig. Da wäre es also sinnvoll, den Wecker für den Morgen ein paar Stunden früher zu stellen. Bei einem Mathe- oder Physiktest hingegen, wo es um logische Zusammenhänge und Kombinationsfähigkeit geht, würde ich lieber länger aufbleiben und lernen.
Benedict Carey, 55, arbeitet als Wissenschaftsreporter für die »New York Times« und wurde für seine Texte über Psychologie und Neurowissenschaften mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Er twittert unter @bencareynyt. Sein Buch »Neues Lernen – Warum Faulheit und Ablenkung dabei helfen« ist im Rowohlt Verlag erschienen.
Interview: Christoph Koch
Erschienen in: NEON 7/2015