Julissa Arce wanderte von Mexiko in die USA ein und lebte dort mehr als zwanzig Jahre ohne Papiere. Trotzdem machte sie an der Wall Street Karriere. Ein Gespräch über Geheimnisse, Donald Trump und die Macht des Geldes.
Dem Klischee nach sind mexikanische Einwanderer bettelarme Menschen, die nachts von Schleusern an Wachpatrouillen vorbei über die Grenze gescheucht werden. wie sah ihr weg in die USA aus?
Ich wuchs in Taxco auf, einem Städtchen südlich von Mexiko-Stadt. Meine Eltern verkauften Silberschmuck an Läden in den USA und reisten zwischen Mexiko und Texas hin und her. Die Sommer verbrachte ich mit Touristenvisa bei ihnen in den USA. Den Rest des Jahres wohnte ich bei meinen Großeltern in Mexiko und ging dort zur Schule.
Wann gingen Sie dauerhaft in die USA?
Mit elf war ich in Enrique verliebt, einen Jungen aus meiner Klasse. Als ich durch Zufall ein „Playboy“-Magazin fand, dachte ich in meiner kindlichen Dummheit, das sei der ideale Weg, um Enrique für mich zu gewinnen. Alle Jungs stehen schließlich auf nackte Brüste, hatte ich gehört. Doch Enrique freute sich nicht, als ich ihm das Heft schenkte, sondern verpetzte mich sofort bei der Lehrerin. Als meine Großmutter davon erfuhr, bekam sie beinahe einen Herzinfarkt und rief meine Eltern an. Die wiederum malten sich die schlimmsten Dinge aus und sagten: Ab sofort lebst du bei uns in San Antonio. So kam ich nach Texas.
Zunächst lebten Sie mit Ihrem Touristenvisum dort und besuchten die Schule. Wie sind sie dort klargekommen?
Es war eine Privatschule, für die meine Eltern bezahlten. Ich lag dem Staat also nicht auf der Tasche, das ist mir sehr wichtig. Trotzdem hätte man mich damals schon ausgewiesen, wenn herausgekommen wäre, dass ich kein Schülervisum hatte, sondern nur ein Touristenvisum. Es war auch so keine leichte Zeit: Mein Englisch war miserabel, das Mittagessen, das mir meine Mutter mitgab, war anders als das meiner Mitschüler. In der Schule hörte ich zum ersten Mal den Begriff „illegal alien“. Ich weiß noch genau, wie sehr mich das verwirrte. Ich dachte, ich bin doch weder illegal noch ein Außerirdischer. Aber damals redete jeder so über die Einwanderer aus Mexiko.
Heute spricht man von „umdokumentierten Migranten“. Hilft das?
Unbedingt! Wer von mir als „illegal alien“ spricht, nimmt mir doch meine Menschlichkeit und reduziert mein gesamtes Wesen auf meinen Einwanderungsstatus. Eine Handlung kann illegal sein, aber niemals die Person selbst.
Als Sie 14 waren, lief Ihr Touristenvisum aus. Was änderte sich dadurch?
Ab diesem Zeitpunkt konnte ich die USA nicht mehr verlassen. Denn dann wäre herausgekommen, dass ich die Frist überschritten hatte. Dann hätte ich für mindestens zehn Jahre nicht mehr in die USA gedurft.
Sie durften also einerseits nicht in den USA sein, waren aber gleichzeitig dort gefangen?
Kann man so sagen. Dass meine Großeltern und mein kleiner Bruder noch in Mexiko waren, machte das nicht einfacher.
Wie konnten Sie in den USA studieren?
Es ist verrückt, aber ausgerechnet Texas, der konservativste, migrantenfeindlichste Redneck-Staat der USA, führte ein Gesetz ein, das es ermöglichte, ohne Studentenvisum oder Aufenthaltserlaubnis zu studieren.
US-Unis sind oft sehr teuer. Wie haben Sie Ihr Studium finanziert?
Meine Eltern kehrten nach Mexiko zurück, zuvor hatten sie einen Foodtruck betrieben. Den führte ich weiter. Ich fuhr also jedes Wochenende mehrere Stunden mit dem Bus von meiner Uni in Austin nach San Antonio, frittierte auf engstem Raum und in glühender Hitze Tausende von Funnel Cakes …
… eine Art Schmalzgebäck …
… und fuhr mit einem Rucksack voller Dollarscheine wieder zurück. In Austin versteckte ich das Geld unter meiner Matratze, bis ich genug zusammen hatte, um die Studiengebühren zu bezahlen. Einmal sah meine Mitbewohnerin den Haufen. Sie dachte vermutlich, ich würde als Stripperin arbeiten dabei konnte ich nur kein Konto eröffnen.
Sie haben so gut wie niemanden in Ihr Geheimnis eingeweiht. Warum nicht?
Einer der wenigen Menschen, die von meiner Situation wussten, war Robert, mit dem ich lange zusammen war. Irgendwann fand ich heraus, dass er noch eine andere Freundin hatte. Als ich ihn zur Rede stellte und drohte, die andere Frau anzurufen und ihr alles zu erzählen, sagte er nur: „Wenn du das machst, rufe ich die Einwanderungsbehörde an. “
Wie haben Sie reagiert?
Ich war vollkommen hilflos. Eine geliebte Person hatte mich nicht nur betrogen, sondern erpresste mich plötzlich auch kaltblütig. Fast genauso schlimm: Dieses fehlende Stück Papier bestimmte, wie ich mich zu fühlen hatte. Ich durfte nicht ausrasten und wütend diese Frau anrufen und Robert eine Szene machen. Ich musste mich zusammenreißen und brav nach Hause gehen. Eine unfassbare Demütigung.
Wie gingen Sie damit um?
Mir fiel es noch schwerer, mich anderen anzuvertrauen. Ich fraß alles in mich hinein, hatte permanent Rückenschmerzen. Psychosomatisch, sagte ein Arzt, aber in Mexiko geht man nicht zum Therapeuten. Also biss ich die Zähne zusammen. Ich hatte ja ständig Angst aufzufliegen, schluckte sie aber runter. Ich sagte niemandem ein Wort. Heute ist die Situation für Migranten ohne Papiere zum Glück besser. Sie haben sich vernetzt und teilen ihre Geschichten miteinander. Das hätte mir damals auch sehr geholfen. Und das ist auch ein Grund, warum ich meine Lebensgeschichte aufgeschrieben habe um anderen zu zeigen, dass sie nicht allein sind.
Immerhin haben sie es an die Wall Street geschafft. Wie wird man ohne Papiere zur Traderin bei Goldman Sachs?
Ich hatte mir inzwischen eine gefälschte Green Card und eine falsche Sozialversicherungsnummer besorgt. Das war überraschend einfach. Ein paar Hundert Dollar, eine Frau in einem schäbigen Apartment. So stelle ich mir einen Drogendeal vor. Goldman Sachs dagegen war nicht so einfach. Da gibt es keinen Trick, keine Abkürzung. Nur harte Arbeit. Ich habe gelernt wie verrückt, war unter den besten fünf Prozent meines Unijahrgangs, und während eines Praktikums bei Goldman Sachs habe ich extrem hart gearbeitet. Morgens war ich die Erste im Büro und abends die Letzte. Ich wollte unbedingt dort Karriere machen, unbedingt viel Geld verdienen.
Nach der Uni bot man ihnen einen Job an, und sie stiegen ziemlich schnell auf, erst im Derivate-, später im Privatkundenbereich. Fühlten sie sich irgendwann sicherer?
Nicht die Spur. Als ich eingestellt wurde, kopierte man meine gefälschten Dokumente für einen Backgroundcheck. Ich rechnete ständig damit, dass mir die Personalabteilung auf die Schliche käme. Dauernd musste ich Ausreden erfinden, warum ich nicht zu einem Termin in die Zweigstelle nach London fliegen konnte Flugangst! Wenn die Kollegen sich nach der Arbeit noch in einer Bar trafen, ging ich nach Hause, aus Angst, dem Türsteher könnte auffallen, dass in meinem mexikanischen Pass kein Visum ist.
Was war der schlimmste Moment?
Als ich den Anruf bekam, dass mein Vater in Mexiko im Sterben lag. Er hatte früher viel getrunken und mich oft geschlagen, als ich klein war. Von dem Wall-Street-Geld hatte ich ihm eine Entziehungskur in Mexiko bezahlt, und eigentlich hatte er sich erholt. Aber sein Diabetes brachte ihn schließlich um. Wenn ich zu seiner Beerdigung gereist wäre, wäre ich nicht wieder in die USA zurückgekommen. Aber das konnte ich in meiner Firma niemandem erklären. Ich verzog mich immer wieder für ein paar Minuten auf die Toilette, um dort zu heulen. An einem Goldman-Sachs-Schreibtisch weint man nicht. Nicht mal, wenn der eigene Vater stirbt.
Wie haben Ihre Kollegen reagiert, als Sie ihnen Ihre wahre Geschichte offenbarten?
Ich outete mich erst, als ich nicht mehr dort arbeitete. Bevor der erste Artikel über mich erschien, rief ich meine früheren Chefs und viele Kollegen an und erzählte es ihnen. Die meisten reagierten positiv, der Tenor war: „Ich kann nicht glauben, dass du das alles auf dich genommen hast, aber es macht meinen Respekt nur größer. “ Es gab aber auch einige, die sich distanziert haben. Natürlich ohne mir ins Gesicht zu sagen, dass sie keinen Kontakt mehr wollen.
Gab es auch Augenblick, in denen Sie bei Goldman Sachs rundum glücklich waren?
Es gab viele Momente, in denen ich wahnsinnig stolz auf das war, was ich erreicht hatte. Einen werde ich nie vergessen: als ich meinen letzten Gehaltsscheck bekam. Ich verdiente am Ende fast 400 000 Dollar pro Jahr. An der Wall Street gilt: Du darfst nie zufrieden sein! Aber in diesem Moment musste ich mich zwingen, nicht über beide Ohren zu grinsen.
Woher kam dieser tiefe Glaube, dass Geld alle Probleme löst?
Als Kind dachte ich, wenn nur genug Geld da wäre, würden meine Eltern nicht mehr streiten. Das ist natürlich Quatsch. Aber viele Probleme lassen sich mit Geld tatsächlich lösen. Ohne Geld hätte ich nicht die Anwälte bezahlen können, die dafür gesorgt haben, dass ich inzwischen US-Staatsbürgerin bin. Ohne Geld hätte ich meinem Vater keine Entziehungskur zahlen und meinem Bruder kein Studium in den USA ermöglichen können.
Hat es Sie geärgert, dass Sie zwar jahrelang Steuern zahlten, aber nicht zur Wahl gehen durften, um zu entscheiden, wofür diese Steuern verwendet wurden?
Für mich war das immer der Preis, den ich zu zahlen hatte. Ich wusste, ich würde die Sozialleistungen, die ich einzahlte, selbst nie in Anspruch nehmen können. Was mich aber extrem aufregt, sind Leute, die schlecht über Immigranten reden und behaupten, die seien darauf aus, Sozialleistungen abzugreifen. Es gab viele Jahre, in denen ich über 50 000 Dollar Steuern gezahlt habe und ich habe mir den Arsch aufgerissen, um das tun zu dürfen.
Donald Trump hat Migration zu seinem Wahlkampfthema gemacht. Was sagen Sie seinen Anhängern?
Donald Trump ist ein Rassist. Punkt. Mit seinen Phrasen vergiftet er unser gesamtes Land. Darüber hinaus ist er komplett inkompetent, und nichts von dem, was er fordert, ist sinnvoll oder auch nur logistisch möglich. Trump will die rund elf Millionen undokumentierten Immigranten in den USA zusammentreiben und ausweisen lassen. Ein Land, dem über Nacht elf Millionen Arbeitskräfte fehlen, kann aber gar nicht anders als komplett zusammenzubrechen.
Wie hat sich das Klima für Immigranten in den USA verändert, seit Trump kandidiert?
Trump ist nur erfolgreich, weil es Millionen Menschen gibt, die denken wie er. Die mussten ihren Rassismus lange zurückhalten, weil er zum Glück gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert war. Aber jetzt haben wir jemanden, der solche rassistischen Dinge im Fernsehen sagt und das freut diese Leute natürlich und gibt ihnen Auftrieb.
Viele linksliberale Amerikaner sagen, sie würden nach Kanada ziehen, falls Trump die Wahl gewinnt. Würden Sie nach Mexiko ziehen?
Ich kann Menschen, die so was sagen, nicht ernst nehmen. Ich finde, die USA sind es wert, dass man für sie kämpft. Die Generationen vor uns haben dafür gekämpft, dass wir die Rechte und die Freiheiten haben, die wir heute haben. Und wir müssen dafür kämpfen, dass die nächste Generation sich hier sicher und frei fühlen kann.
Der einzige Weg aus Ihrem Dilemma war am Ende, einen Amerikaner zu heiraten und so eine echte Green Card zu bekommen. Wie fühlte sich das an?
Das hat schon sehr an mir genagt. Auch weil meine Mutter so viel dafür geopfert hat, dass ich eine gute Ausbildung bekomme und nie von einem Mann abhängig sein muss. Ich sehe mich als Feministin und glaube daran, dass Frauen die gleichen Rechte haben und ihr eigenes Geld verdienen sollten. Am Ende erkennen zu müssen, dass mein einziger Ausweg darin liegt, mir von einem Mann helfen zu lassen, hat mich wahnsinnig gemacht.
War es eine Zweckehe oder waren Sie ein echtes Liebespaar?
Wir sind inzwischen zwar nicht mehr verheiratet, aber damals haben wir uns wirklich geliebt.
Heute sind Sie US-Staatsbürgerin und kämpfen mit der Organisation „Define American„für die Rechte von Einwanderern. Wofür genau setzen Sie sichern?
Das Gesetz in Texas, das es mir ermöglichte zu studieren, gibt es heute in über fünfzehn Bundesstaaten. Wir setzen uns dafür ein, dass es in allen eingeführt wird. Bildung ist das Wichtigste, um Immigranten in unsere Gesellschaft zu integrieren. Ich erzähle meine Geschichte, um darauf aufmerksam zu machen.
Auch in Europa ist Migration ein wichtiges Thema. Verfolgen Sie die Diskussion?
Ja, aber alles, was ich dazu sagen kann, ist: Migration liegt in der menschlichen Natur. Unsere Zivilisation beruht darauf, dass Menschen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen immer wieder an andere Orte ziehen. Egal, ob in Europa oder in den USA: Mauern haben noch nie funktioniert. Mauern sind immer gefallen.
Julissa Arce hat ihre Lebensgeschichte in dem Buch „My Underground American Dream“ aufgeschrieben. Sie lebt heute in Los Angeles.
Interview: Christoph Koch
Erschienen in: NEON 11/2016