Die Hamburger Firma Freiheit.com entwickelt E-Commerce- und Logistik-Software für zahlreiche große Unternehmen. Sie gilt als eine der besten der Branche. Gegründet wurde sie von einem Paar, das sich sehr gut ergänzt – und bei dem trotzdem ab und zu die Fetzen fliegen.
Auf den ersten Blick ist die mit alten Covern der Tech-Zeitschrift »Wired« tapezierte Wand nur ein neonbunter Hingucker. Grelle Farben, poppig-laute Überschriften, überdrehte Fotos – die Welt der späten Neunziger. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die Magazintitel als Warnung, wie schnell die digitale Welt sich ändern kann: Netscape und RealVideo sind die Firmen der Stunde, für Apples Rettung müssen Gebete gesprochen werden, Nokia ist riesig, und Jeff Bezos schaut als jungenhafter „boy billionaire“ vom Cover. Gerade mal etwa 20 Jahre her – und doch eine komplett andere Welt.
Die Hamburger Softwarefirma Freiheit.com, an deren Bürowand sich die Titelseiten-Sammlung befindet, existiert ebenfalls seit fast zwei Jahrzehnten. Sie hat diese Zeit unbeschadet überstanden, zwei Wirtschaftskrisen gemeistert und viele kleine digitale Trends. „Guck mal hier: Damals dachte man doch tatsächlich, das Internet wird einfach so was wie das neue Fernsehen“, sagt Stefan Richter und deutet mit seinem tätowierten Arm auf eine der Titelseiten. Der 51-Jährige mit Glatze und Vollbart hat Freiheit.com gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Claudia Dietze gegründet. Die beiden sind seit mehr als 25 Jahren ein Paar, kennen sich seit gemeinsamen Pausenhoftagen. „Damals warst du aber noch eine ganz schöne Rotzgöre“, sagt er zu ihr, als die beiden nach dem Firmenrundgang zum gemeinsamen Interview in Dietzes Büro sitzen. „Und du fandest dich schon damals als den Allercoolsten“, gibt diese lachend zurück. Einige Jahre nach den Schulhof-Begegnungen, inzwischen ein Paar, arbeiteten die beiden gemeinsam in einer kleinen Unternehmensberatung eines ehemaligen McKinsey-Partners. Der Begriff Silicon Valley war plötzlich überall zu hören, und sowohl Richter, seit Jugendtagen Programmierer, als auch Dietze, kaufmännisch ausgebildet, spürten, dass sich etwas Grundsätzliches veränderte in der Welt, in der Wirtschaft. Es war noch nicht klar, was genau diese Umwälzung bedeutete, aber sie wollten dabei sein. Deshalb gründeten sie 1998 – zuerst als Einzelunternehmen, ein Jahr später als GmbH mit Kompagnon Jörg Kirchhof – die Firma Freiheit.com. Ein Manifest in Domain-Form. „Wir wollten die Dinge anders machen als die Firmen, die wir zuvor kennengelernt hatten“, sagt Claudia Dietze, 49, ganz in Schwarz, lange rote Haare, rotgoldene Uhr am Handgelenk. „Wir wollten weniger Angst, weniger Hierarchien, weniger politics.“
Als Paar eine IT-Firma führen? Freunde rieten ab
Ein Paar an der Spitze einer Firma – in der Gastronomie üblich, in einem modernen IT-Unternehmen ungewöhnlich. „Meine Freundinnen haben mir damals alle ins Gewissen geredet“, erinnert sich Claudia Dietze. „Die sagten zu mir: ,Spinnst du? Ihr werdet pausenlos zusammenhängen!‘ Und ich konnte nur antworten: Super, genau darauf freue ich mich.“
Die Arbeitsteilung zwischen den beiden ist im Grunde seit den Anfangstagen geblieben: Stefan Richter ist für die technischen Belange zuständig, für die Details bei den Softwareprodukten, die die Firma entwickelt, aber auch für die großen Zukunftsideen. „Stefan ist der Visionär und der Techniker, mit dem kann man hervorragend über Softwaretrends und hochtechnologische Anwendungsfälle diskutieren“, sagt Heiko Hüttel, bei Volkswagen zuständig für den Bereich Connected Car Services, in dem die Wolfsburger seit einiger Zeit mit Freiheit.com zusammenarbeiten. „Claudia ist für das Geschäftliche verantwortlich, aber auch für die Frage, wie sich Arbeit und Arbeitsumfeld gestalten.“ Katrin Stamme, Product Director bei Freiheit.com, sieht aber auch Gemeinsamkeiten: „Beide können sehr dickköpfig sein und schauen immer zwei Schritte weit in die Zukunft.“
Freiheit.com wurde mitten in die übergeigte Phase der New Economy hineingegründet. Einer der ersten Aufträge der jungen Firma: für die Agentur Spray eine Alternative zur damals dominanten Suchmaschine Yahoo! entwickeln. Der Auftraggeber schmiss unmittelbar nach dem Briefing eine exzessive Launch-Party: „Die veranstalteten sofort eine riesige Sause auf Kampnagel in Hamburg. Drei Bühnen, Fingerfood und kostenlose Drinks für alle“, erinnert sich Stefan Richter und schüttelt den Kopf. „Dabei hatte unser Team gerade mal fünf Leute, und wenn ich mich richtig erinnere, hatten wir noch nicht mal richtig mit der Arbeit angefangen.“
Während zahllose andere Agenturen und Firmen aufgrund solcher Verschwendung das Platzen der Dotcom-Blase nicht überlebten, hatte Freiheit.com dank Claudia Dietze keine Probleme. Sie lehnt bis heute Schulden ebenso ab wie Risikokapital oder die damals mancherorts üblichen Fantasiegehälter.
Stattdessen wuchs die Firma langsam, aber stetig und konzentrierte sich in den Folgejahren auf den rapide wachsenden und lukrativer werdenden E-Commerce-Sektor. Sie baute Websites, Shop- und Logistiksysteme für Unilever und Beiersdorf, Shopping24 und BASF. Wer auf Travelchannel eine Reise bucht, auf Bol.de Bücher kauft, bei Tipp24 Lotto spielt oder sich auf Parship verlieben will, benutzt bis heute oft Freiheit.com-Software. Das Unternehmen entwickelt fast immer „full stack“, also sowohl das sogenannte Frontend, das der Kunde zu sehen bekommt, als auch das Backend, mit dem das Unternehmen arbeitet, das hinter der Website steckt. Für Metro Cash & Carry ist Freiheit.com beispielsweise seit Jahren tätig und baut – gemeinsam mit internen und anderen externen Entwicklern – das komplette Bestell-, Versand- und Logistiksystem neu. Dabei liefern die Hamburger nicht nur Pixel und Code an den Düsseldorfer Handelsriesen, sondern auch Know-how über Methoden der modernen Arbeitswelt.