Lieder, die niemand hört. Videos, die niemand schaut. Noch nie war es so leicht, Inhalte digital zu verbreiten. Und noch nie so schwer, ein Publikum damit zu erreichen.
Christian zieht an seiner Zigarette und fährt sich nervös durch die ohnehin schon verwuschelten Haare. Er trägt einen Nasenring, seine Augen sind müde. An der Wand hängt ein Metallica-Poster, durch das kleine Fenster hinter ihm scheint die Sonne grell ins Zimmer. „Immer noch kein Kommentar …“, sagt er und schaut an der Kamera vorbei nach unten, vermutlich auf den Laptop vor ihm. „Wenn nur mal jemand was schreiben würde.“ Der Zuschauer sieht im linken oberen Eck von Christians Livestream ein Auge abgebildet. Die Zahl daneben fällt von 2 auf 1. Nur noch ein einziger Zuschauer. Christian streamt in der Facebook-Gruppe „Wohnzimmer Live“. Es gibt unzählige solcher Gruppen, für Leute, die sich mitteilen wollen. Die der Kamera ihres Laptops oder Smartphones von ihrem Leben erzählen. Das Problem ist nur: jemanden zu finden, der zuhört.
Im Jahr 2004 machte der damalige »Wired«-Chefredakteur Chris Anderson den Begriff des Long Tail populär. Seine These: Ein gewöhnliches Ladengeschäft muss sich aus Platz-, Kosten- und Logistikgründen auf die Verkaufsschlager konzentrieren und meist die Artikel auslisten, die nur wenig Umsatz bringen. In der digitalen Welt hingegen, können Millionen von Nischenprodukten zusammengenommen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellen. Denn sie verursachen kaum Kosten, und da ein weltweiter Onlinestore eine größere Reichweite hat als der Laden an der Ecke, hat er auch bessere Chancen, das Nischenprodukt an die wenigen Liebhaber zu bringen, die sich weltweit dafür interessieren.
Chris Andersons These ist grundsätzlich nach wie vor richtig – doch der lange, flache Schwanz des Long Tail wird immer länger und immer dünner. Denn eine Million mal null Zuschauer bleiben null Zuschauer.
„Hey, was ist los mit euch?“, schreibt Christian in den Chat zu seinem Video. Er singt das Lied mit, das im Hintergrund im Radio läuft, gähnt, leert seine Kaffeetasse. Als er seine Webcam um 180 Grad dreht, sieht man Drehtabak und einen übervollen Aschenbecher auf dem Tisch vor ihm. „Ach ja …“, seufzt er. Dann wechselt er die Musik, statt romantischen Klängen ertönt jetzt etwas Dynamischeres. Doch der Zuschauerzähler verharrt bei eins.
Der Traum: 500.000 Dollar monatlich fürs Daddeln
Immerhin Resonanz, über die sich manch anderer schon freuen würde. Vor allem die Zahl der streamenden Videospieler, die der Welt ihre Künste vorführen, ist rapide gestiegen. Technisch ist das ganz einfach: Meist muss man nur einen Knopf auf seinem Konsolen-Controller drücken und schon wird das Wohn- oder Jugendzimmer zum Sendestudio. Und das Leben als Streamer – vergleichbar den sogenannten Influencern bei Plattformen wie Instagram – kann lukrativ sein: Der erfolgreichste Nutzer der Streamingplattform Twitch, ein Gamer namens Ninja, kommt auf fast elf Millionen Follower und verdient nach eigenen Angaben mehr als 500.000 Dollar pro Monat mit dem Daddeln von Videospielen wie „Fortnite“.
Doch auf jeden solchen Star kommen Hunderttausende, die erfolglos um Aufmerksamkeit buhlen. Mehr als zwei Millionen Nutzer streamen ihre Spiele oder manchmal einfach nur Videos aus ihrem Alltag bei Twitch. Man kann es sich wie zwei Millionen Fernsehprogramme vorstellen – mit überschaubaren Einschaltquoten.