Ein Szenario.
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Im Mai 2018 wurde es der EU-Kommission endgültig zu viel: Sie verklagte die Bundesrepublik Deutschland und fünf andere Länder vor dem Europäischen Gerichtshof, weil diese die vereinbarten Grenzwerte für die Luftqualität zu lange und zu oft überschritten hatten. Drei Monate zuvor hatten das Kanzleramt und die Ministerien für Umwelt und Verkehr noch mit einer Vorschlagsliste versucht, die EU-Kommission von einer Klage abzubringen. Einer dieser Vorschläge: kostenloser öffentlicher Nahverkehr.
„Zusammen mit den Ländern und der kommunalen Ebene erwägen wir, den öffentlichen Nahverkehr gratis anzubieten, um die Zahl der Privatfahrzeuge zu reduzieren“, hieß es in dem Schreiben. Die Klage kam trotzdem. Die Bundesregierung kündigte daraufhin an, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu fördern und die verkehrsbedingten Emissionen zu senken. Neben anderen Maßnahmen sollen in fünf Städten (Bonn, Essen, Herrenberg, Mannheim und Reutlingen) die Preise für den ÖPNV gesenkt werden. Bonn plant ein Klima-Jahresticket für einen Euro pro Tag, Essen will Prämien zahlen, wenn jemand über einen längeren Zeitraum Monatstickets kauft.
Aber was wäre, wenn der öffentliche Nahverkehr komplett kostenlos wäre?
Es macht einen Unterschied, ob eine Großstadt wie Berlin, in der sowieso schon viele Bewohner auf ein Auto verzichten, den Fahrpreis für ihr dichtes und großflächiges Netz abschafft – oder ob eine ländliche Gemeinde den Bus, der zweimal am Tag fährt, kostenlos anbietet. Das Thema ist komplex, und doch lassen sich einige wahrscheinliche Konsequenzen durch verschiedene Studien und Modellversuche vorhersagen.
Die wohl wichtigste Erkenntnis: Der Preis ist für viele Menschen nicht der entscheidende Faktor, wenn es darum geht, sich für oder gegen ein Verkehrsmittel zu entscheiden. „Den ÖPNV gratis anzubieten ist ein nahezu wirkungsloses Instrument, wenn es darum geht, die Menschen zum Umsteigen vom Auto in Bus und Bahn zu bewegen“, sagt Marlon Philipp vom Fachbereich Techniksoziologie der TU Dortmund, der dazu eine Simulationsstudie durchgeführt hat. „Die Menschen wägen nach vielen verschiedenen Kriterien wie Schnelligkeit, Komfort oder Flexibilität ab und gewichten diese individuell unterschiedlich.“ Sein Fazit: Gratis-Tickets für den ÖPNV allein bringen niemanden dazu, das Auto stehen zu lassen. Hinzukommen müssten Regeln, die das Autofahren unattraktiver machen. Etwa eine Citymaut, drastische Parkgebühren, Tempolimits. Oder ein besseres Streckennetz und eine höhere Taktung von Bussen und Bahnen, um schneller und flexibler unterwegs zu sein.
Der niederländische Verkehrsforscher Oded Cats von der Universität Delft ist zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. „Würde man das Geld für den Gratis-ÖPNV stattdessen in einen höheren Takt der öffentlichen Verkehrsmittel investieren, also mehr Züge und Busse in kürzeren Abständen, würden deutlich mehr Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen“, sagte er Anfang des Jahres in einem Interview mit »Spiegel Online«. „Das Auto bietet für viele Menschen immer noch die höchste Verbindungsqualität. Gleichzeitig sind die gesellschaftlichen Kosten beim Autofahren, also die Emissionen, Staus und der Verbrauch öffentlichen Raums, für den Verursacher quasi unsichtbar.“
In einer Statista-Umfrage vom März 2018 gaben 54 Prozent der Befragten in Deutschland an, im Falle kostenloser Fahrscheine bei innerstädtischen Fahrten auf das eigene Auto zu verzichten. Bessere Verbindungen waren für 41 Prozent eine weitere Voraussetzung dafür, eine kürzere Taktung für 31 und mehr Sitzplätze für 17 Prozent. 18 Prozent wollten gar nicht umsteigen, 12 Prozent nur bei höheren Treibstoff- und Energiepreisen.
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Foto: Ant Rozetsky / Unsplash