Firmen wollen heute nicht nur Waren verkaufen, sondern geliebt werden. Doch vielen fällt es schwer, eine Gemeinschaft von Fans zu begründen. Wie es gelingen kann, zeigen eine Hamburger Teefirma, ein dänischer Spielzeughersteller und eine schottische Brauerei.
Als Esin Rager am 3. November 2002 das Hamburger Hotel Atlantic betrat, hatte sie zehn selbst gemischte Teesorten dabei, wusste aber nicht so recht, was sie erwarten sollte. Einerseits hatte sie in den vergangenen Wochen zahlreiche Zusagen für ihren „Tanztee“ bekommen. Andererseits melden sich die Leute ja für jeden Quatsch an und kommen dann doch nicht.
Der Plan: In dem feinen Hotel sollten sich Menschen zum gemeinsamen Teetrinken zusammenfinden. Zuvor hatten Rager und ihre Freunde Einladungen per Post verschickt, mit Bitte um Antwort per Fax – und einer weiteren Adresse von jemandem, der sich über eine Einladung freuen würde. Ein klassisches Schneeballsystem. Als nun mehr als 500 Erwachsene und 60 Kinder im Atlantic standen und das Hotel statt einem ganze fünf Festsäle öffnete, stand Rager kurz vor der Ohnmacht – und fragte sich, wie ihr Tee für all diese Leute reichen sollte.
„Wir hatten im Grunde eine Community, bevor wir ein wirkliches Produkt hatten“, sagt die heute 52-Jährige. Der Tanztee sei „viral gegangen“: Die Möbelkette Habitat meldete sich bei Rager und wollte den Tee in ihren Filialen verkaufen, der NDR den zweiten Tanztee filmen. „Und ständig riefen Leute an und fragten nach dem nächsten Termin.“
Die in den USA geborene und in Russland eingeschulte Deutschtürkin baute also schnell einen kleinen Onlineshop für ihre Tee-Marke Samova, entwarf Etiketten für die Dosen der verschiedenen Sorten und wurde mit ihren inzwischen ausgestiegenen Mitgründern nach nur sechs Monaten vom legendären Stilmagazin »Wallpaper« als die deutschen „tea musketeers“ gefeiert.
Die Tanztees sollten eine Alternative zu den damals boomenden Businessclubs sein: Statt jungen, meist männlichen Gründern, die nachts Zigarre rauchend und Whiskey trinkend über Investments philosophierten, sollten die nachmittäglichen Events auch Menschen mit weniger Testosteron eine Gelegenheit zum Austausch bieten. Eine Band spielte (Ragers Ehemann ist Schlagzeuger), es wurde getanzt, geplaudert – und Tee getrunken. Mit dem „Philosophischen Salon“, einer Diskussionsrunde, kam zu den Tanztees später eine weitere Veranstaltung hinzu. Die Tee-Community wuchs von Jahr zu Jahr – und in deren Windschatten Ragers Marke Samova. Rund zwei Millionen Euro Jahresumsatz macht das Unternehmen nach eigenen Angaben heute.
Bei vielen Firmen ist es anders: Sie sind zwar erfolgreich, aber statt nur gekauft zu werden, wollen sie auch geliebt werden. Gemeinschaft statt Kundschaft, Nähe statt Verkaufsbeschallung. Doch der Aufbau einer eigenen Community ist gar nicht so einfach. „In den Nullerjahren war das ein großes Thema“, sagt Vivian Pein, Digitalberaterin und Vorstandsmitglied beim Bundesverband Community Management. Bald setzten die Firmen jedoch vor allem auf Facebook, weil der Aufbau einer Gemeinschaft auf der Plattform als weniger arbeitsintensiv galt. „Doch auf Facebook geht es fast ausschließlich um Reichweite“, sagt Pein. „Inzwischen sieht kaum noch jemand die Inhalte von Unternehmen, wenn diese nicht massiv in Werbung investieren und so Sichtbarkeit erkaufen.“ Daher versuchen wieder mehr Firmen, eigene Gemeinschaften zu begründen. Aber wie erschafft man eine mit Substanz?
Drei Faktoren sind dafür entscheidend:
• Klare Regeln – weil sich nur so Vertrauen in der Gruppe einstellen kann.
• Ein langer Atem – denn selbst wenn man alles richtig macht, dauert es ein bis zwei Jahre, bis sich eine stabile Community entwickelt hat.
• Ein Angebot, welches von den Adressaten her gedacht ist – da jede Gemeinschaft eine Daseinsberechtigung braucht. „Dass eine Marke gern eine tolle Gemeinschaft hätte, ist ein verständlicher Wunsch – aber keine Existenzberechtigung“, sagt Vivian Pein. Firmen müssten sich stattdessen fragen, welche Bedürfnisse ihre Kunden haben.
Spiel-Bausteine für Erwachsene
Dem dänischen Klötzchenhersteller Lego ist das gelungen. Er erkannte: Es sind keineswegs nur Kinder, die mit den bunten Plastiksteinen Raumschiffe, Burgen oder Rennwagen bauen. Erwachsene können genauso besessene Konstrukteure sein – und haben ebenso das Bedürfnis, ihre Bauwerke der Welt zu präsentieren. Als Lego in den Nullerjahren in der Krise steckte (siehe brand eins 03/2008: „Konkurrenz auf dem Noppenmarkt“), wurden die „Adult Fans of Lego“, kurz AFOL, als wichtiger Kundenkreis erkannt und mit Lego Ideas eine eigene Community gegründet, in der sie sich austauschen und ihre Konstruktionen präsentieren können. Das Besondere: Lego bringt die besten Kreationen auf den Markt – und beteiligt die Erfinder am Umsatz.
Anruf bei Tormod Askildsen, seit 1983 in verschiedenen Positionen für Lego tätig und inzwischen der oberste AFOL-Flüsterer. Über die damalige Krise sagt er: „Wir hatten eine Zeit lang unsere Seele verloren. Wir hatten aufgehört, auf unsere Kunden zu hören und trafen falsche Entscheidungen.“ Deshalb seien Kjeld Kristiansen, der Eigentümer, sowie der damalige Vorstandsvorsitzende Jørgen Knudstorp zu zahlreichen Fan-Events gefahren, um dort mit den Leuten zu sprechen. „Das hat uns geholfen, wieder auf Kurs zu kommen.“
Unter anderem mit der Plattform Lego Ideas: Die Idee dafür kam aus Japan. Auf der Website „Cuusoo“ (japanisch für Wunsch) konnten Designer aller Art ihre Entwürfe hochladen und das Publikum darüber abstimmen lassen. 2008 kooperierte Lego mit der Plattform und brachte zwei Fan-Entwürfe – das japanische Tiefseetauchboot Shinkai 6500 und die Raumsonde Hayabusa – in die japanischen Spielzeugläden. „Die Sets verkauften sich extrem gut“, sagt Askildsen. 2010 wurde die Plattform internationalisiert, 2014 von Lego Cuusoo in Lego Ideas umbenannt. Heute hat sie 1,5 Millionen registrierte Mitglieder, die jährlich Tausende Entwürfe einreichen und darüber abstimmen.
Dort gelten diese Regeln:
• Jeder, der älter als 13 ist, kann einen Entwurf einreichen.
• Modelle müssen mit (maximal 3000) echten Lego-Steinen oder einem virtuellen Bausatz erstellt worden sein; Skizzen genügen nicht.
• Innerhalb gewisser Zeiträume müssen erst 100, dann 1000, dann 5000 und zuletzt 10 000 Stimmen für den Entwurf gesammelt werden.
• Alle Entwürfe, die 10 000 Stimmen erreichen, werden von Lego auf Originalität und Umsetzbarkeit geprüft.
• Wird ein Entwurf produziert und verkauft, wird der Erfinder als Urheber genannt und erhält zehn Exemplare des Produktes sowie ein Prozent der erzielten Umsätze.
„Die Community ist extrem wichtig für uns, und wir tun alles, damit sie sich wertgeschätzt und gehört fühlt“, sagt Askildsen. So gebe Lego sich größte Mühe, dass die auf Anregung der Fans produzierten Neuheiten so nah wie möglich an deren Entwürfen sind. Außerdem habe man den Einreichungs- und Entscheidungsprozess mehrfach den Vorschlägen aus der Community angepasst. „Es ist eine wertvolle Beziehung, die wir sehr ernst nehmen.“
Inzwischen hat Lego 32 Sets, die auf Fan-Vorschlägen beruhen, auf den Markt gebracht – darunter das „Yellow Submarine“ der Beatles, das Café „Central Perks“ aus der TV-Serie „Friends“ sowie ein Klavier, auf dem man tatsächlich spielen kann. „Die Community hat so viele unterschiedliche Interessen und mehr Einfälle, als wir selbst sie je haben könnten“, sagt Askildsen. Dreimal pro Jahr sichtet LEGO die Vorschläge, aktuell werden 36 Ideen geprüft. Sieben weitere Entwürfe – darunter eine mittelalterliche Schmiede, das Haus aus „Kevin– Allein zu Haus“ und ein originalgetreuer Globus – sind bereits akzeptiert und sollen bald erhältlich sein.
Wer um Ideen bittet, ohne wie Lego über eine gute Beziehung zu seiner Basis zu verfügen, holt sich schnell einen Tritt vors Schienbein.
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Text: Christoph Koch
Foto: Kimson Doan / Unsplash