Geschlossene Schulen, Fernunterricht – durch die Schulschließungen während der Corona-Pandemie wurde die schon lange währende Debatte über die deutsche Schulpflicht wieder neu entfacht. Rund 8,3 Millionen Schüler und Schülerinnen gibt es in Deutschland an allgemeinbildenden Schulen, je nach Bundesland ist deren Besuch für mindestens neun Jahre verpflichtend. Gezählt werden dabei die absolvierten Schuljahre, nicht die Klassenstufen. Was wäre, wenn es in Deutschland diese Schulpflicht nicht mehr gäbe?
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Die derzeitige Regelung stammt aus dem Jahr 1919, die Idee entstand jedoch schon in der Zeit der Reformation. „Bis dahin hatten nur die Kirche und der Adel Zugang zu Bildung“, sagt Michael Schratz, Erziehungswissenschaftler an der Universität Innsbruck. „Andere waren ausgeschlossen. Dieser elitäre Zustand sollte durch die Schulpflicht beendet werden.“
Schulpflicht vs Unterrichtspflicht
Auch heute noch soll die Schulpflicht sicherstellen, dass jedes Kind – unabhängig davon, ob seine Eltern es für wichtig halten – ein solides Bildungsfundament erhält. In vielen europäischen Ländern ist das anders geregelt: Dort gibt es lediglich eine Unterrichtspflicht. Das bedeutet, dass die Eltern selbst entscheiden können, wo und wie ihre Kinder lernen. Diese müssen dann allerdings vielerorts in jährlichen Prüfungen unter Beweis stellen, dass sie den staatlichen Lehrplänen folgen.
In Ländern mit Schulpflicht muss der Unterricht hingegen in öffentlichen Schulen oder anerkannten Privatschulen durch ausgebildete Lehrkräfte erfolgen. Ohne diese Pflicht ginge vor allem die Sozialisationsfunktion der Schule verloren. Denn in der Schule lernt man nicht nur Schreiben und Rechnen, sondern auch, ein aktiver Teil der Gesellschaft zu werden. Im Idealfall trifft man auf Menschen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen. „Nur wenn wirklich alle hingehen, ist die Schule ein Mikrokosmos der Gesellschaft“, sagt Michael Schratz. Dann ermögliche sie eine Form der Sozialisation und Integration, die die Familie und das unmittelbare Umfeld nicht leisten können. Außerdem werden Familien immer kleiner – Kinder interagieren deshalb jenseits der Schule seltener in größeren Gruppen.
Die Schule hat vor allem eine Qualifikationsfunktion: Die Kinder sollen Wissen und Kompetenzen erlernen, damit sie später am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Prinzipiell ist all das auch durch Homeschooling vermittelbar. „Wer seine Kinder eigenständig unterrichten will, muss jedoch Zeit und selbst einen hohen Bildungsstand haben“, sagt Schratz. Und nicht jeder könne es sich leisten, Hauslehrer einzustellen, wie früher der Adel.
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Text: Christoph Koch
Foto: Kenny Eliason / Unsplash