Digitale Versöhnung statt Digital Detox

Written by on 17/03/2025 in GEO with 0 Comments

Ein Ausstieg aus der modernen Welt ist ein interessantes Experiment, wie ich am eigenen Leib erfahren habe. Doch als dauerhaftes Modell, da bin ich mir sicher, taugt es nicht.

Um in unserer modernen Welt premiumglücklich zu werden, gibt es angeblich ein Patentrezept: einfach nur den Stecker ziehen. Smartphone aus, Laptop zuklappen, auf alle digitalen Hilfsmittel verzichten. Sich mit „Digital Detox“ mal so richtig entgiften.

Eine digitale Nulldiät? Das klang verlockend – ich hab’s versucht. 40 biblische Tage lang verzichtete ich auf das Internet und mein Mobiltelefon. Ich wollte herausfinden, ob ein Leben in jener unvernetzten Welt überhaupt noch möglich ist, die noch vor gut 20 Jahren selbstverständlich gewesen ist. Wie würden sich meine Freundschaften verändern? Könnte ich überhaupt noch effizient arbeiten? Hätte ich plötzlich viel (zu viel?) freie Zeit, befreit vom digitalen Diktat des Immererreichbar-Seins?

Das Ergebnis war, sagen wir mal: überraschend und erkenntnisreich. Aber warum sind eigentlich so viele Menschen skeptisch gegenüber der digitalen Revolution? Als die ersten Smartphones auf den Markt kamen, bildeten sich Schlangen vor den Läden. Doch nun, in Zeiten, in denen fast jeder ein Smartphone in der Tasche trägt, haftet der digitalen Welt ein Beigeschmack des Unsinnlichen und Unauthentischen an.

In den Lockdowns der Corona-Pandemie gelten Brotbacken, Maskennähen oder Heimwerken als vorbildliche Arten, seine Zeit im Rückzug zu nutzen. Wer sich hingegen dem Serien-Streaming oder Videospielen hingibt, hängt „guilty pleasures“ nach, heimlichen, sündigen Verführungen, über die man lieber nicht spricht.

Je mehr sich das Digitale im Alltag ausbreitet, desto furioser auch der Widerstand dagegen: „Analog ist das neue Bio“, der Schlachtruf der Konterrevolution gegen Smartphones, Smartspeaker und Smart Assistants, verspricht Genuss durch Verzicht. Auf Vinyl-Schallplatten passen zwar nur wenige Songs, doch klingen diese angeblich „wärmer“ als MP3-Dateien aus dem Internet. Aufklebbare Fotoecken statt Online-Galerien, spartanische Programmkino-Stühle statt gemütliche Netflix-Couch, Druckerschwärze an den Fingern statt Podcasts im Ohr: Wer es ernst meint mit dem guten Leben, so die Quintessenz, der muss es analog genießen. Muss es zelebrieren wie eine den ganzen Sonntag über selbst eingekochte Hühnersuppe. Das Digitale sei stets nur die hektisch aufgegossene Fünf-Minuten-Terrinen-Version.

Aber ist das wirklich so? In meiner 40-tägigen digitalen Fastenkur gewann ich tatsächlich an Konzentration und sparte Zeit, die ich ansonsten auf Twitter, eBay oder niedliche-hundebabys.de vertrödelt hätte. Aber ich verbrachte auch viel Zeit mit der Suche nach den letzten noch existierenden Telefonzellen. In der Bankfiliale versuchte ich mich daran zu erinnern, wie man Überweisungsformulare korrekt mit dem Kugelschreiber ausfüllt. Ansonsten ging freie Zeit dafür drauf, auf Freunde zu warten, deren SMS – „Sorry, komme 15 Min. später!“ – mich nie erreichte. Schließlich lag mein Smartphone zu Hause.

So schärfte das digitale Detox meine Sinne: Mir wurde klar, dass die Unterscheidung zwischen gutem analogen und schlechtem digitalen Leben unsinnig ist. Bereits der Wissenschaftsautor und Medientheoretiker Steven Johnson hat in seinem Buch „Everything Bad is Good for You“ dargelegt, dass Fernsehserien, Videospiele und das Internet uns durchaus smarter machen – ohne dass das Gehirn dabei Schaden nehmen würde.

Und tatsächlich: Spiele wie „The Last of Us“ oder „Red Dead Redemption“ haben mehr Tiefgang und bieten feiner gezeichnete Charaktere und Dramaturgie als manches Taschenbuch. Die Frage nach Schrott oder Brillanz entscheidet sich nicht daran, ob für die Verbreitung Bits und Datenkabel oder bedrucktes Papier und Zelluloidrollen benutzt werden. So wechselt der Maler David Hockney spielerisch

zwischen Aquarellen, Lithografien, Digitalfotos, iPad-Malerei, Polaroidbildern und 3-D-Fotografien hin und her und erschafft dabei Kunstwerke. Und auch bei meinem Offline-Experiment gelang es mir nicht etwa, von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends aufmerksam „Krieg und Frieden“ durchzuackern, nur weil ich meinen Router abgeschaltet hatte. So einfach sind wir Menschen nicht gestrickt.

Ich glaube nicht daran, dass wir den Kontakt zur realen Welt verlieren und uns nicht mehr in ihr zurechtfinden, nur weil wir uns ab und zu digitaler Hilfsmittel bedienen, um uns das Leben zu erleichtern. Da überzeugt mich auch nicht das typische Argument der Analog-Befürworter, dass das Navi im Auto unsere Orientierung verkümmern lasse. Klar, die Zeitungsarchive sind voll spöttischer Geschichten über Autofahrer, die in aufgeweichten Feldwegen oder der komplett falschen Stadt gelandet sind. Ganz so, als hätte sich ohne Navi noch nie irgendjemand verfahren!

Es stimmt, auch wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Verwendung von Google Maps unser Gehirn verändern und dazu führen könnte, dass wir es verlernen, Karten zu lesen. Na und? Landkarten und Stadtpläne sind keine heiligen Artefakte. „Viele Menschen konnten noch nie Karten lesen und interessieren sich für diesen Vorgang vielleicht auch gar nicht besonders“, fasst es die Autorin Kathrin Passig in ihrem Buch „Strom und Vorurteil“ sehr gut zusammen. „Und jetzt erlangen diese inkompetenten Geschöpfe ohne angemessene Mühen Zugang zu Möglichkeiten, für die Kartenkenner bisher hart arbeiten mussten. Wenn angesehene Spezialistenfähigkeiten zu billig erhältlichen Dienstleistungen herabsinken, erfreut das die Spezialisten nur selten.“

Digitale Balance von Christoph Koch

Statt von bleischweren Autoatlanten lassen wir uns nun eben vom Smartphone ans Ziel führen – und in eine vielversprechende Zukunft. Denn nahezu alle fortschrittlichen Mobilitätsformen sind nur digital denkbar. Wer Autos, Fahrräder und Roller für kurze Strecken mieten will; wer komplexe ÖPNV-Verbindungen samt Ticket in Echtzeit braucht oder sich beim „Ridepooling“ mit Fahrgästen mit ähnlicher Fahrtrichtung ein Taxi teilen will: All diese Dinge sind erst durch das Smartphone realisierbar geworden. Vom autonomen Fahren gar nicht zu reden: Dieses erfordert zwar KI-Systeme und Unmengen an digitalen Daten, wird uns eines Tages aber Lebensqualität und viel frei nutzbare Zeit bringen, die wir derzeit noch damit verbringen, im (analogen) Stau zu stehen.

Natürlich bringt die Digitalisierung jede Menge Schwierigkeiten mit sich, wie jede neue Technologie: schwindende Privatsphäre, Hate Speech, mächtige Monopole und Apps, die gezielt so entwickelt werden, dass sie ein möglichst hohes Suchtpotenzial entfalten sollen. Doch die Forderung, diese Probleme allein durch „Digital Detox“ in den Griff zu bekommen, greift zu kurz.

Für mich war der totale Ausstieg aus der digitalen Welt als Experiment interessant, doch als dauerhaftes Modell taugt er ungefähr so viel wie darauf zu beharren, jedes einzelne Lebensmittel, das man isst, wieder selbst anbauen, ernten oder schlachten zu wollen.

Sicher, wir können uns darüber beklagen, dass uns unser Smartphone ständig mit Benachrichtigungen anbimmelt. Und darüber, dass sich Online-Artikel vor blinkenden Werbebannern kaum lesen lassen. Oder wir lernen, die Benachrichtigungen zu deaktivieren und die Artikel so zu speichern, dass wir sie bequem offline und ohne Werbebombardement lesen können.

Denn: Wenn wir all die kleinen und großen Computer, die uns umgeben, als lästige Fremdkörper betrachten, werden sie das auch bleiben. Je besser wir uns jedoch in der digitalen Sphäre auskennen, umso besser wird es uns gelingen, unser Leben gemeinsam mit ihnen so zu leben, wie wir es wollen.

Die digitalen Werkzeuge bestmöglich beherrschen, statt uns willenlos von ihnen beherrschen zu lassen – das muss unser Ziel sein.

Text: Christoph Koch
Erschienen in: GEO
Foto: Annie Spratt auf Unsplash

Tags: , , , , , , , , , , , , ,

About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

Subscribe

If you enjoyed this article, subscribe now to receive more just like it.

Subscribe via RSS Feed

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Top

Entdecke mehr von Christoph Koch

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen