Die Aufmerksamkeitsökonomie hat eine neue Art Führungspersönlichkeit hervorgebracht: den Thought Leader (m/w/d).
Das Cambridge Dictionary definiert einen Thought Leader als „Experten auf einem bestimmten Gebiet, dessen Ideen und Meinungen andere Menschen beeinflussen, insbesondere in der Geschäftswelt“. Menschen mit klugen Gedanken, die ihrer Zeit voraus waren, gab es schon immer. Mal nannte man sie Propheten, mal Meinungsführer, mal Avantgarde. Früher begründeten sie Religionen, später Buchverlage oder zumindest Yogaschulen. Immer war es wenigen vorbehalten, zu diesem Kreis origineller Denker zu zählen. Für die meisten anderen war das okay.
Heute, im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie, ist das anders. Es gibt ein weitverbreitetes Verlangen, ein Thought Leader zu sein – und entsprechend viele Dienstleister, die sich auf „Thought Leadership Marketing“ spezialisiert haben. Ideen zu haben ist nämlich mühsam. Gute und originelle erst recht. Da ist es hilfreich, wenn Marketingleute einem verraten, wie man ohne Talent und Anstrengung zum Vordenker wird.
Im Internet muss man nicht lange suchen, um auf Beiträge zu stoßen mit Titeln wie „So werden Sie ein Thought Leader“ oder „Hero-Content als Erfolgsfaktor zur Thought-Leadership-Positionierung“. Die Ratschläge, die man dort bekommt, sind allerdings ernüchternd:
– Seien Sie authentisch!
– Teilen Sie hochwertigen Content!
– Bauen Sie ein Netzwerk auf!
– Seien Sie relevant für Ihre Zielgruppe!
Das reinste Allgemeinplatz-Bingo! Seien Sie relevant – als hätte irgendein Mensch irgendwo auf der Welt schon mal das Ziel verfolgt, durch Irrelevanz auf sich aufmerksam zu machen.
In den einschlägigen Blogposts und Ratgebern wird erklärt, wo sich der Thought Leader im großen Kosmos der Bescheidwisser zu verorten hat. Es handele sich gewissermaßen um einen Hybrid aus Influencer und Expertin. Mit mehr Fachkompetenz als der Youtuber, der Nahrungsergänzungsmittel anpreist. Und mit mehr Reichweite als die Professorin, die seit Jahren in ihrem stillen Kämmerlein zu einem Thema forscht.
Alle senden, kaum jemand empfängt (mit Gewinn)
Wie aber wird man denn nun zum Thought Leader? Der erste Schritt: den Titel einfach in die Online-Biografie schreiben. Das ist erlaubt, denn es gibt weder eine Thought-Leader-Kammer noch einen zu erlangenden Meinungsführerschein. Ähnlich wie beim Visionär, bei der Expertin oder beim klugen Kopf gilt aber: Es wäre schon besser, wenn die Zuschreibung nicht nur von einem selbst käme. Man sagt ja auch nicht: „Ich verfüge über sehr viel Stil“, um mit diesem Satz das genaue Gegenteil zu beweisen.
Als Thought Leader braucht man ein Gespür fürs Verkaufen. Im Grunde geht es um Content Marketing: Die leadenden Thoughts sollen vor allem Werbung machen für das eigene Produkt, die eigene Person, das eigene Unternehmen. Vermeintlich tiefschürfende Erkenntnis gegen umsatzfördernde Aufmerksamkeit, so lautet der Deal.
Das Problem: Je mehr Thought Leader immer ähnlichere Botschaften in die Welt hinausdenken, umso mehr heiße Luft entsteht. So kam zum Beispiel eine Studie der PR-Agentur Edelman bereits 2020 zu der Erkenntnis, …
Weiterlesen auf brandeins.de …
Text: Christoph Koch
Foto: Jehyun Sung auf Unsplash